Voice from Russia interviewt Botschafter Sergei Garmonin
Nach einem ersten persönlichen Treffen im März führt Peter Hänseler mit dem russischen Botschafter Sergei Garmonin ein Interview – die Fragen sind vielfältig und brisant.
Peter Hänseler
Einleitung
Am 22. März 2024 fand in Kloten ein InputEvent in Zürich-Kloten zum Thema «Russland/Schweiz/Neutralität» statt. Dazu eingeladen waren neben dem Diplomaten Jean-Daniel Ruch der russische Botschafter Sergei Garmonin und Peter Hänseler.
Peter Hänseler sprach über Russland, die Hintergründe des Ukrainekonflikts und über BRICS (link); der russische Botschafter zur Schweizer Neutralität (link).
Dabei ergab sich die Möglichkeit eines persönlichen Gespräches zwischen Botschafter Garmonin und Peter Hänseler und daraus wiederum die Idee eines Interviews. Wir präsentieren unseren Lesern hier das Ergebnis dieses Austausches zweier Persönlichkeiten, die beide auf ihrem jeweiligen «Posten» das Ihrige dafür tun, einer weiteren Eskalation entgegenzuwirken.
Das Interview wurde vor den Friedensgesprächen am Bürgenstock geführt. Die Analyse von Botschafter Garmonin sind unseres Erachtens eine Punktlandung. Sie bestätigt die Berechenbarkeit und Beständigkeit der russischen Diplomatie.
Somit bedürfen die Aussagen von Botschafter Garmonin auch nach der Grundsatzrede von Präsident Putin zur russischen Aussenpolitik vom 14. Juni 2024 und nach dem Treffen in Bürgenstock keiner Korrektur.
Interview
Frage:
Die Schweizer Neutralität verdankt die Schweiz vor allem Russland, durch den Einfluss von Zar Alexander I., der sich für den Neutralitätsstatus der Schweiz am Wiener Kongress sehr einsetzte.
Ist es richtig zu behaupten, dass Russland bis 2022 ein aussergewöhnlich gutes und enges Verhältnis zur Schweiz hatte?
Botschafter Garmonin:
Die Geschichte der Beziehungen zwischen Russland und der Schweiz reicht mehr als zwei Jahrhunderte zurück. Der neutrale Status der Schweiz war lange Zeit eine wichtige Konstante in unserem bilateralen Dialog. Ich möchte anmerken, dass die Kommunikation zwischen Moskau und Bern nicht immer problemlos war.
Es gab Höhen und Tiefen und sogar einen Abbruch der diplomatischen Beziehungen nach der Ermordung des sowjetischen Spitzendiplomaten Wazlaw Worowski in Lausanne im Jahr 1923. Sein Mörder wurde übrigens von den Geschworenen freigesprochen, die eindeutig von der damaligen antisowjetischen Informationshysterie beeinflusst waren. Aber in der Gegenwart waren unsere bilateralen Beziehungen bis vor kurzem hauptsächlich konstruktiv. Wir hatten sehr enge bilaterale Kontakte und gute wirtschaftliche Beziehungen, die leider auf Initiative der Schweizer Behörden eingestellt worden sind.
Seit 2022 hat die Schweiz konsequent die antirussische Linie des „kollektiven Westens“ unterstützt. Von Anfang an hat die Eidgenossenschaft eine strikt pro-kiewische Haltung eingenommen, alle 13 Pakete unrechtmäßiger EU-Sanktionen angenommen, russische Vermögenswerte zu Unrecht eingefroren und die Idee eines internationalen Tribunals zur Verurteilung der russischen Staatsführung proaktiv gefördert.
Frage:
In früheren Zeiten legte die Schweiz grossen Wert darauf, als Schweiz wahrgenommen zu werden, mit eigener Politik und eigenen Werten und vor allem als neutraler Staat. Ein Resultat dieser eigenständigen Politik war unter anderem, dass sehr viele internationale Organisationen ihren Sitz in der Schweiz nahmen oder zumindest bedeutende Büros dort unterhalten, vom Roten Kreuz, über Sportverbände bis hin zur UNO.
Inzwischen hat man den Eindruck, dass Washington und Brüssel einen massgeblichen Einfluss auf das innen- und aussenpolitische Verhalten der Schweiz haben.
Wie sehen Sie das?
Botschafter Garmonin:
Tatsächlich erleben wir derzeit eine immer deutlichere und wachsende Beteiligung des offiziellen Berns an der antirussischen Kampagne Washingtons und Brüssels und als Folge davon den vollständigen Verlust der Autorität der Schweiz als unparteiische internationale Plattform. Natürlich verschlimmert dies die bereits komplizierten bilateralen Beziehungen und lässt keine Aussicht auf eine qualitative Verbesserung in absehbarer Zukunft zu.
Es liegt auf der Hand, dass die Annäherung der Eidgenossenschaft an die NATO, zu der einige externe und interne Kräfte sie energisch drängen, weder unseren bilateralen Beziehungen noch den Versuchen Berns, sich auf der internationalen Bühne als „neutraler“ Staat und „ehrlicher Makler“ zu positionieren, zum Vorteil gereichen wird.
Obwohl die Schweiz nicht zur Europäischen Union gehört, agieren ihre Behörden leider immer noch hauptsächlich mit Rücksicht auf Brüssel. Die Wirtschaft und die geografische Nähe dürften dabei eine grosse Rolle spielen: Die EU ist der grösste Handelspartner der Schweiz, und die Eidgenossenschaft selbst ist von allen Seiten von EU-Mitgliedstaaten umgeben. Es ist nicht überraschend, wenn auch bedauerlich, dass Bern in vielen Fragen der Brüsseler Politik folgt, oft zum Nachteil der eigenen nationalen Interessen.
Frage:
Die diplomatische Atmosphäre zwischen Russland und der Schweiz darf als eisig bezeichnet werden. Sie sind seit über 7 Jahren Botschafter in der Schweiz. Inwiefern hat sich die Arbeit für Sie als Botschafter seit 2022 verändert und beurteilen Sie die Schweiz noch als neutral?
Botschafter Garmonin:
Aus unserer Sicht hat die Schweiz ab dem Jahr 2022 ihre Neutralität verloren. Die Eidgenossenschaft hat sich damit der Möglichkeit beraubt, als unparteiischer Vermittler aufzutreten. Wir haben unseren Kollegen von der EDA unsere Position in dieser Frage wiederholt mitgeteilt, auch auf hoher Ebene. Am 23. Januar hat sich Aussenminister Lawrow in New York mit seinem Schweizer Kollegen Ignazio Cassis auf seinen Wunsch getroffen. Während des Gesprächs gab der russische Minister grundsätzliche Einschätzungen zum Zustand der Schweizer „Neutralität“ und zur bedenkenlosen Unterstützung des Kiewer Regimes durch Bern ab.
Was die Arbeit der Botschaft nach 2022 anbelangt, so ist es uns gelungen, die Kommunikationskanäle mit Bern aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne ist die Situation deutlich besser als mit einigen anderen westlichen Ländern. Die Botschaft steht in ständigem Kontakt mit dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten. Von Zeit zu Zeit treffen wir uns auch mit Vertretern anderer Departemente der Eidgenossenschaft.
Gleichzeitig gab es aber auch gewisse Verluste: Bern hat die Arbeit der bisherigen politischen und wirtschaftlichen Formate der russisch-schweizerischen Zusammenarbeit bewusst eingefroren.
Frage:
Am 11. April 2024 hat das überparteiliche Initiativkomitee seine Neutralitätsinitiative eingereicht. Nun wird es in nächster Zeit möglich sein, über die Initiative, welche die Neutralität präziser in der Bundesverfassung verankern will, abzustimmen.
Diese Initiative ist ein klares Zeichen dafür, dass Teile der Bevölkerung die Aufgabe der Neutralität der Schweiz nicht unterstützen.
Wie beurteilen Sie die Neutralitätsinitiative?
Botschafter Garmonin:
Es gehört nicht zu den Spielregeln der russischen Diplomatie, sich zu Fragen der Innenpolitik von Gastländern zu äussern. Wir halten uns strikt an den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.
Generell kann ich aber sagen, dass die Botschaft natürlich die Entwicklung der Schweizer Haltung zum Neutralitätsprinzip genau verfolgt, das mittlerweile einer starken Erosion unterworfen ist. Wie wir sehen, stehen wir mit unserer Einschätzung der offiziellen Berner Aussenpolitik nicht allein da.
Frage:
Über die Ziele der russischen Spezialoperation wird viel gesprochen und der Grundtenor im Westen ist, dass Präsident Putin einen Expansionskrieg führe und nach der Ukraine ebenfalls die baltischen Staaten und Polen im Visier habe.
Russland betont, dass das Ziel die Entmilitarisierung und die Entnazifizierung sei. Speziell über die Entnazifizierung wird im Westen geradezu höhnisch gesprochen.
Können Sie unseren Lesern die Ziele kurz erläutern und die Gründe dafür?
Botschafter Garmonin:
Ein dauerhafter Frieden erfordert die eindeutige Verankerung des blockfreien Status der Ukraine, die Absage an irgendeinen NATO-Vormarsch,
an die Militarisierung der Ukraine als Bedrohung für Russland und an die nazistische Politik der gesetzlichen und praktischen Vernichtung des gesamten russischen Erbes auf ukrainischem Gebiet. Es ist auch wichtig, das Unkraut des Neonazismus auszurotten, das leider fest in der Schwarzerde der Ukraine verwurzelt ist.
Es sei betont, dass der Neonazismus nicht ausschliesslich ein Problem der Ukraine ist; verschiedene Länder sind in unterschiedlichem Masse von dieser Geissel betroffen. In der überwiegenden Mehrheit der Länder stellen Neonazisten jedoch nur eine Randgruppe dar. In der Ukraine hingegen werden ehemalige Henker und Angehörige von Strafbrigaden, die offiziell als Naziverbrecher verurteilt wurden, als Helden verherrlicht. Strassen werden nach ihnen benannt und Denkmäler zu ihren Ehren errichtet. Auf dieser Grundlage wird eine Hassideologie aufgebaut. Das ist inakzeptabel. Dies ist eine prinzipielle Frage und sie wird gelöst werden.
Westlicher Druck, Sanktionen und Versuche, Moskau durch eine «Friedenskonferenz» nach Selenski-Friedensformel zur Kapitulation zu zwingen, werden unsere Vorgehensweise nicht verändern, denn es geht um die grundlegenden Interessen Russlands.
Im Zusammenhang mit den russischen Zielen möchte ich noch auf einen weiteren Punkt hinweisen. Westliche Politiker erklären immer wieder, dass sie den «Preis» des Konflikts für Russland maximieren wollen. In der Tat erhöhen sie damit nur die Kiewer Kosten. Russland ist bereit zu verhandeln, aber unter Berücksichtigung der Interessen unserer nationalen Sicherheit und der aktuellen Lage «vor Ort». Je länger Kiew die Aufnahme von Verhandlungen hinauszögert und je mehr westliche Langstreckensysteme in der Ukraine eintreffen, desto weiter werden wir gezwungen sein, die Bedrohung von unseren Grenzen weg zu verschieben. Was die Behauptungen betrifft, dass Herr Putin angeblich die baltischen Staaten und Polen ins Visier nimmt, so möchte ich darauf hinweisen, dass unser Präsident wiederholt betont hat, dass er keine derartigen Absichten hegt. Das letzte Mal äusserte er sich dazu am 5. Juni bei einem Treffen mit Vertretern ausländischer Nachrichtenagenturen in St. Petersburg:
«Sie haben sich ausgedacht, dass Russland die NATO angreifen will. Haben sie den Verstand verloren oder was?… Wer hat sich das ausgedacht? Das ist Quatsch, das ist Blödsinn! Es wäre Blödsinn, wenn es nicht dazu dienen würde,
die eigene Bevölkerung zu täuschen, zu sagen: ´Schrecklich! Bald wird Russland uns angreifen! Und wir müssen uns dringend bewaffnen, müssen dringend Waffen in die Ukraine schicken!´ <…> Wir müssen uns den Kern der aktuellen Ereignisse ansehen. Wir haben keine imperialen Ambitionen, glauben Sie mir, das ist alles Unsinn, genau wie die Drohung Russlands gegen die NATO und Europa.»
Frage:
Russland hat an der Front die Oberhand und scheint seine militärischen Ziele zuerst langsam, aber stetig und zurzeit beschleunigt zu erreichen. Selbst die Berichterstattung im Westen scheint ihre Meinung darüber langsam den Realitäten anzupassen, meint jedoch immernoch, dass durch mehr Waffenlieferungen das Blatt noch einmal gewendet werden könnte.
Wie ist der militärische Erfolg Russlands zu erklären und warum scheint die Ukraine trotz riesiger finanzieller und militärischer Hilfe seitens der NATO-Länder kein Erfolg beschieden zu sein?
Botschafter Garmonin:
Das Bild der modernen Kriegsführung verändert sich rasant. Der Schlüssel zum Erfolg auf dem Schlachtfeld liegt in der Kunst, sich an diese wechselnden Bedingungen anzupassen. Niemand ist vor Fehlern geschützt, aber die Russen sind gut darin, sich anzupassen – auch im Krieg.
Was die enorme finanzielle und militärische Hilfe der NATO angeht, so gebe ich zu, dass die Kiewer Führung nicht so damit umgeht, wie es sich die Brüsseler Bürokraten vorstellen. Wir sind mit dieser Situation ganz zufrieden.
Frage:
Obwohl der Westen über 17’000 Sanktionen gegen Russland erlassen hat, geht es Russland nicht nur gut, sondern besser als allen Ländern im Westen. Das Wachstum des Bruttosozialproduktes Russlands wird jenes aller G7-Staaten 2024 übertreffen.
Wie ist dies zu erklären? Welche Rolle spielt dabei der militärisch-industrielle Komplex? Besteht die Gefahr des Totrüstens Russlands wie seinerzeit in den letzten Jahren der Sowjetunion?
Botschafter Garmonin:
Wie ich bereits festgestellt habe, sind die Russen gut darin, sich anzupassen. Die Praxis zeigt deutlich, dass dies nicht nur für militärische Angelegenheiten gilt, sondern auch für ganz friedliche Bereiche: Wirtschaft, Finanzen und makroökonomische Stabilität. Der Westen hatte gehofft, Russland mit Sanktionen zu vernichten und zu isolieren, aber er hat seine Möglichkeiten weit überschätzt. Entgegen der Meinung westlicher Journalisten besteht die „Weltgemeinschaft“ nicht nur aus den Ländern des kollektiven Westens, sondern auch aus den mit Russland befreundeten Staaten, die die Weltmehrheit bilden.
Was die Militärausgaben betrifft, so möchte ich darauf hinweisen, dass Russland aus seinen Fehlern die Konsequenzen zieht. Die russische Regierung erinnert sich sehr gut daran, welche negative Rolle die Verteidigungsausgaben für die Sowjetunion gespielt haben. Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, hat wiederholt betont, dass wir uns nicht in einen Rüstungswettlauf hineinziehen lassen werden, der kostspielig und zerstörerisch für unsere Wirtschaft wäre. So äusserte er sich auf der Plenarsitzung des Internationalen Wirtschaftsforums in St. Petersburg am 7. Juni 2024 wie folgt:
«Wir müssen natürlich unbedingt darüber nachdenken, dass unsere Militärausgaben dem heutigen Bedarf und dem Entwicklungsstand unserer Wirtschaft entsprechen, denn wir dürfen niemanden parasitieren, wie es beispielsweise in den Vereinigten Staaten der Fall ist.»
Frage:
Russland steht seit dem Beginn der militärischen Spezialoperation vor enormen Herausforderungen, wir gingen bereits weiter oben auf einige Aspekte ein.
Wer die Medien in Russland verfolgt, kann feststellen, dass es im Land eine Aufbruchstimmung gibt. Die militärische Spezialoperation in der Ukraine ist dabei nur ein Teil. Es gibt bedeutende Veränderungen in der Wirtschaft, im gesellschaftlichen Leben.
Welche Bedeutung haben bei den heutigen Veränderungen Bildung und Kultur, welche Rolle spielt der russische Patriotismus, familiäre Werte, vielleicht auch im Vergleich dazu, wie Sie Bildung, Erziehung und Kultur in Schweiz und in Westen wahrnehmen?
Botschafter Garmonin:
Der westliche Mainstream versucht, Russland auf jede erdenkliche Weise zu verteufeln, und wir können dies in den Schweizer Medien sehr deutlich beobachten.
Trotzdem bleibt die Tatsache, dass das moderne Russland ein Leuchtturm des gesunden Konservatismus und der traditionellen Werte im modernen Europa ist. Neoliberale Werte sind ihm fremd und die Institution der Familie ist wichtig. Die moderne Bildung und Erziehung der russischen Jugend ist eine logische Fortsetzung dieses Zustands. Kriege werden nicht von Kriegsherren gewonnen, sondern von Schullehrern und Priestern.
Wenn ich über die Bildung und Erziehung der Jugend spreche, möchte ich ein weiteres Thema ansprechen, dem ich besondere Bedeutung beimesse. Es geht um die Erinnerung und die Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg. Die Gegner Russlands versuchen, die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts neu zu schreiben, auch die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Heute finden im Baltikum und in der Ukraine mit Unterstützung der offiziellen Behörden Aufmärsche ehemaliger SS-Legionäre oder Fackelzüge unter den Fahnen der OUN-UPA (Organisation Ukrainischer Nationalisten – Ukrainische Aufständische Armee) statt. In den von der Roten Armee befreiten Ländern Osteuropas werden Hunderte Denkmäler sowjetischer Soldaten zerstört. Deswegen ist es unsere Pflicht, die historische Wahrheit über die Ereignisse des Grossen Vaterländischen Krieges und die Rolle der Roten Armee und des multinationalen sowjetischen Volkes, das entscheidend zum Sieg über den Nationalsozialismus beigetragen hat, an unsere Kinder und Enkelkinder weiterzugeben, damit diese sie an ihre Kinder und Enkelkinder weitergeben können.
Frage:
An der Friedenskonferenz vom Juni im Bürgenstock wird Russland nicht teilnehmen, bzw. wurde gar nicht eingeladen. Jetzt zeigt sich, dass auch wichtige Vertreter der BRICS-Staaten China, Brasilien und Südafrika nicht teilnehmen werden, obwohl die Schweiz verlauten liess, dass die Teilnahme der BRICS-Staaten für den Erfolg der Konferenz essentiell sei.
Wie beurteilen Sie persönlich diese Friedenskonferenz?
Botschafter Garmonin:
Die Bürgenstock-Konferenz ist eine logische Fortsetzung der Treffen im so genannten „Kopenhagener Format“, die bisher auf der unteren Ebene der nationalen Sicherheitsberater stattgefunden haben. Der Grundstein sowohl für das „Kopenhagener Format“ als auch für die künftige Veranstaltung in der Schweiz ist die sogenannte „Friedensformel“ von Selenski. Im Kern handelt es sich dabei um eine Reihe von Ultimaten an Russland, die zusammen eine Forderung nach Kapitulation darstellen: Reparationen an die Ukraine, Annexion einer Reihe russischer Regionen durch die Ukraine, ein Tribunal gegen die russische militärische und politische Staatsführung und so weiter.
Die Hauptmotivation der Organisatoren der Bürgenstock-Konferenz besteht darin, genau die „Friedensformel“ von Selenski zu fördern. Wir sehen, dass die Schweizer Behörden nun versuchen, diese Tatsache zu verschleiern, indem sie den Fall so darstellen, dass angeblich nur drei Themen auf der Konferenz behandelt werden. Dies ist nichts anderes als ein Kalkül, um möglichst viele Länder des globalen Südens und Ostens in die Veranstaltung einzubeziehen, da das Treffen sonst zu einem weiteren fruchtlosen Treffen westlicher Sponsoren des Kiewer Regimes verkommt. Der wahre Zweck der Veranstaltung ist für uns ganz offensichtlich. Es handelt sich um einen weiteren Versuch, Russland eine „Friedensformel“ als vermeintlich alternativlose Lösung der Situation in der Ukraine aufzudrängen, die natürlich unendlich weit von der Realität entfernt ist. Nach der Meinung des russischen Aussenministers Sergej Lawrow ist die Abhaltung der Konferenz in der Schweiz ein Weg ins Nichts.
Wie bei den Treffen im Kopenhagener Format werden die Organisatoren dieser Veranstaltung nur das russische Ultimatum unter dem Deckmantel einer „Friedensformel“ ernsthaft prüfen und fördern. Das Ergebnis der Konferenz wird als Konsens präsentiert werden, den die westlichen Länder später versuchen werden, Russland als „Verhandlungsplattform“ aufzudrängen.
Dieser Ansatz ist völlig weltfremd und kann nicht als Grundlage für Verhandlungen dienen. Es ist sinnlos, mit Russland in der Sprache der Ultimaten zu reden. Ich sehe keinen Sinn darin, an Veranstaltungen teilzunehmen, die eine solche „Formel“ des Kiewer Regimes propagieren.
Frage:
Die Geschichte lehrt uns, dass die Politik immer wieder Fehler begeht, welche die Welt – oder grosse Teile davon – in militärische Krisen führen.
Wie beurteilen Sie die Gesamtlage aus russischer Sicht?
Botschafter Garmonin:
Leider hat die westliche Diplomatie ihre Fähigkeit zum Dialog verloren. Die westlichen Hauptstädte haben sich nun auf die „Megaphon-Diplomatie“ konzentriert, nämlich auf unbegründete Anschuldigungen, Verdrehung von Tatsachen, Beleidigungen, Ultimaten und die kategorische Ablehnung der vitalen Sicherheitsinteressen Russlands.
Der Grund für dieses Verhalten westlicher Aussenministerien hat eine doppelte Natur. Einerseits ist es der verzweifelte Wunsch des kollektiven Westens, den Ländern der Weltmehrheit im Geiste des Neokolonialismus weiterhin seinen Willen und seine Vision in den Kernfragen der internationalen Beziehungen zu diktieren: wie die Weltordnung aussehen und nach welchen „Regeln“ sie funktionieren soll. Zum anderen ist es die mangelnde Bereitschaft der politischen Eliten, die objektive Realität anzuerkennen: Das Kräfteverhältnis hat sich schon verändert, die Welt ist bereits multipolar geworden, und die Rolle des kollektiven Westens in der internationalen Politik schrumpft und wird weiter sinken.
In der Psychologie gibt es fünf Stadien der Akzeptanz des Unvermeidlichen: Verleugnung, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Der Westen schwankt zwischen Verleugnung und Wut in seinem Unwillen, das Unvermeidliche zu akzeptieren, d.h. den Übergang zur Multipolarität und das Ende seiner Vorherrschaft. Daher resultiert die mangelnde Bereitschaft, andere Standpunkte als die eigenen anzuhören, und der Versuch, die völlig realitätsferne „Friedensformel“ von Selenski durchzusetzen.
Frage:
Die Welt lehrt uns jedoch auch, dass man trotz aller Widrigkeiten immer optimistisch in die Zukunft schauen sollte.
Wie sehen Sie die Chancen einer Normalisierung der Beziehungen zwischen dem kollektiven Westen und dem Globalen Süden?
Botschafter Garmonin:
Der kollektive Westen wird die neue Weltlage nicht ewig ignorieren können; früher oder später werden die europäischen und amerikanischen Politiker sie anerkennen müssen. Dann wird es zu einer Renaissance der Diplomatie als der Kunst des gegenseitigen Zuhörens und der Kompromissfindung kommen, auch in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Es ist also zu früh, vom „Tod“ der Diplomatie zu sprechen. In der Zwischenzeit werden wir russischen Diplomaten weiterhin unser Bestes tun, um die politische Position unseres Landes in der neuen multipolaren Welt zu stärken, deren Entstehung wir gerade erleben.
Frage:
Noch einmal zu den Medien: Der Westen definiert sich in erheblichem Masse über seine «Werte», die jedoch nirgendwo allgemeinverbindlich beschrieben und definiert sind. Dennoch spielen Meinungsfreiheit, Meinungsvielfalt und Freiheit der Medien in der Beschreibung dessen, was den Westen angeblich ausmachen soll, eine dominierende Rolle.
Wie sehen Sie Meinungsfreiheit, Meinungsvielfalt und die Medien im Vergleich Russland – Schweiz (ggf. stellvertretend für den Westen insgesamt)?
Botschafter Garmonin:
Ich glaube, dass es sowohl in Russland als auch in der Schweiz eine Meinungsvielfalt gibt. Im Westen spricht man gerne von „staatlichen“ Medien in Russland. In Russland gibt es aber auch andere, durchaus respektable Medien: zum Beispiel Kommersant, Iswestija, Wedomosti oder Moskowski Komsomolez, die private Eigentümer haben.
In der Schweiz gibt es zum Beispiel «Die Weltwoche», ein gutes Beispiel für ein solides Medienunternehmen mit Qualitätsanalysen, dessen Position sich stark von der der Redaktionen anderer Publikationen unterscheidet.
Natürlich hat jedes Land seinen eigenen Mainstream, und es ist nicht verwunderlich, dass er sich zwischen Russland und der Schweiz deutlich unterscheidet: Die unterschiedlichen historischen Schicksale der beiden Länder bieten unterschiedliche Perspektiven für die Beurteilung bestimmter Ereignisse. Im Falle der Eidgenossenschaft ist der Diskurs der überwältigenden Mehrheit der lokalen Zeitungen ganz in der Logik und Weltsicht von Brüssel und Washington. Es ist schade, dass dieser Mainstream ein Format diktiert, in das eine unbequeme Meinung einfach nicht passen mag.
Ehrlich gesagt, mussten wir mehrmals erfahren, dass unsere Interviews und Kommentare für die Schweizer Medien einfach nicht veröffentlicht wurden, weil der Chefredakteur dies so beschlossen hatte. Was ist das, wenn nicht Zensur? Umso wertvoller ist es für uns, mit denjenigen Schweizer Journalisten und Zeitungen zusammenzuarbeiten, die bereit sind, uns die Möglichkeit zu geben, unsere Position zu verschiedenen Themen ehrlich und offen darzustellen.
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