Russland heute – Innenansichten eines Schweizers – Peter Hänseler im Interview mit Schweizer Standpunkt

Die Schweiz verspielt ihren guten Ruf und den Goodwill des Globalen Südens 

Peter Hänseler

(CH-S/gk) Peter Hänseler ist eine der wenigen Personen, die auf Grund ihrer persönlichen Lebenserfahrung einen direkten Vergleich zwischen der Schweiz, Deutschland und Russland ziehen können. Er war über viele Jahre beruflich in Russland tätig und hat heute seinen Lebensmittelpunkt in Moskau, von wo aus er auch publizistisch tätig ist. Umso interessanter dürfte seine Sicht auf die verschiedenen Bereiche wie die aktuelle Politik, den konkreten Alltag oder auch die russische Perspektive auf die Schweiz ausfallen. Der «Schweizer Standpunkt» hatte Gelegenheit, ihn näher zu befragen.

Schweizer Standpunkt: Im April ist Wladimir Putin bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung mit hoher Zustimmung erneut zum Präsidenten Russlands gewählt worden. In den westlichen Medien wird behauptet, es sei keine echte Wahl gewesen. Stimmt es, dass es in Russland keine Wahlpflicht gibt? Die Menschen hätten einer Wahl ja auch fernbleiben können, oder? Und wie beurteilen Sie die hohe Zustimmung der russischen Wähler zur Wiederwahl Putins?

Zur russischen Präsidentenwahl

Peter Hänseler: In Russland gibt es ein Wahlrecht, keine Wahlpflicht. Das russische Wahlgesetz ist glasklar. Artikel 3, Absatz 3 des Wahlgesetzes lautet wie folgt: 

«Die Teilnahme eines Bürgers der Russländischen Föderation an Wahlen und Volksabstimmungen ist frei und freiwillig. Niemand hat das Recht, auf einen Bürger der Russländischen Föderation Einfluss zu nehmen, um ihn zur Teilnahme oder Nichtteilnahme an Wahlen und Volksabstimmungen zu zwingen oder seine freie Willensäusserung zu verhindern.»

Selbstverständlich war die historisch hohe Wahlbeteiligung von 74% (nach 67,5% 2018) neben dem hohen Wahlergebnis von 87% (nach 77,5% 2018) ein Ausdruck des grossen Vertrauens des Volkes. 

Der Grund dafür ist mehrschichtig. Ich verfolge die Wahl von Präsident Putin seit 2000. Die Zustimmungsraten von Präsident Putin lagen immer um die 80% – der Grund dafür ist darin zu finden, dass sich das Leben der Russen seit seiner ersten Wahl kontinuierlich verbessert hat. Russland heute ist mit dem Russland im Jahre 2000 nicht mehr zu vergleichen: Tag und Nacht. 

Das aussergewöhnlich gute Wahlergebnis und die hohe Wahlbeteiligung heute sind ein Ausdruck dafür, dass die Russen mit der Arbeit von Präsident Putin seit Februar 2022 sehr zufrieden sind: Es ist ihm – und seinem hervorragenden Team – zu verdanken, dass Russland das Sanktionsgewitter und die aggressive Haltung des Westens so gut überstanden hat. Weiter kommen die guten militärischen Ergebnisse an der Front dazu. 

Ich sage immer wieder: Die Russen sind Skeptiker und beurteilen Putin nach seinen Ergebnissen – und die stimmen. 

Schweizer Standpunkt: Inzwischen ist von Putin und der Duma ein grosser Teil der bisherigen Regierung im Amt bestätigt worden. Es gab jedoch auch Personaländerungen, vor allem wurde ein neuer Verteidigungsminister bestimmt. Was war die offizielle Begründung für diesen Wechsel und wie wird dieser Personalwechsel von der russischen Bevölkerung und dem Militär bewertet?

Peter Hänseler: Der Präsidentensprecher Peskow äusserte sich zur Ernennung Belousows gegenüber Journalisten wie folgt:

«Auf dem Schlachtfeld gewinnt heute derjenige, der offener für Innovationen ist, der offener für die schnellste Umsetzung ist. Aus diesem Grund hat der Präsident beschlossen, das Verteidigungsministerium von einem Zivilisten leiten zu lassen.»

Die Zustimmung zu diesem Wechsel ist insbesondere bei der kämpfenden Truppe hoch. Belousow ist keine neue Figur, sondern war am Erfolg der russischen Wirtschaft seit 2000 massgeblich beteiligt. Er gilt als äusserst intelligent, loyal zu Russland und als absolut nicht korrumpierbar. Somit hat er sich auch den Respekt in der Zivilbevölkerung redlich verdient. 

Im Westen denkt man ja immer, dass Wladimir Putin alles entscheidet, kontrolliert und steuert. Das ist kompletter Unsinn. Er gibt die grossen Linien vor und schart um sich ein Team, das in Sachen Qualität und Effizienz jedes Regierungsteam im Westen in den Schatten stellt. Einer der Gründe dafür ist im Umstand zu finden, dass Putin ein äusserst intelligenter Schnelldenker ist, welcher über ein unglaubliches Detailwissen in vielen Gebieten verfügt. Somit ist er in der Lage, gute Leute zu finden, da er ihre Fähigkeiten tatsächlich beurteilen kann.

Es scheint so, dass die Rochaden in der Regierung noch nicht abgeschlossen sind. Vor einigen Wochen wurde einer der Stellvertreter von Schoigu wegen Korruption verhaftet; das mag einer der Gründe für die Neubesetzung im Verteidigungsministerium gewesen sein. Korruption ist nicht nur ein Thema in Russland, sondern überall wo Menschen mit grossen Geldsummen hantieren. Die grossen Leistungen, welche der russische Staat in den letzten zwei Jahren vollbringen musste, hatte auch zur Folge, dass riesige Gelder in kurzer Zeit eingesetzt wurden und werden mussten, die Korruption erleichterten. Es scheint, dass nun der Zeitpunkt gekommen ist, genauer hinzuschauen. Es würde mich daher nicht überraschen, wenn noch weitere Posten neu besetzt werden, es gegebenenfalls auch zu Verhaftungen und Verurteilungen kommen sollte. Das ist ein gutes Zeichen: Das Korruptionsproblem wird angegangen. 

Markante Entwicklungen in Russland

Schweizer Standpunkt: Sie leben nun seit Jahren als Schweizer in Russland. Was sind für Sie die markantesten positiven Entwicklungen zum Nutzen der russischen Bevölkerung, die Sie in dieser Zeit erlebt und beobachtet haben?

Peter Hänseler: Meine folgenden Aussagen beziehen sich auf Moskau, da ich dort lebe. Moskau ist ein Kosmos für sich und dem Rest von Russland immer voraus. Was aber nicht heisst, dass sich die Regionen nicht positiv entwickeln – es braucht einfach seine Zeit und Moskau ist der Trendsetter. 

Als ich 1997 Russland das erste Mal besuchte, war Russland in einer katastrophalen Verfassung. Grau, trüb und es gab keinen Mittelstand. Einige wenige Reiche und viele arme Menschen. 

Die augenfälligste Entwicklung ist der Umstand, dass sich eine grosse und starke Mittelschicht entwickelt hat. Wer heute in Russland arbeiten will und etwas erreichen möchte, kann das. Die Situation ist mit der Lage im Westen in den 1970er Jahren zu vergleichen. 

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Verwaltung ihren Sowjetmief abgelegt hat. Im Verkehr mit dem Bürger ist der Staat heute ein Dienstleister. Die Effizienz, welche ich als Normalbürger mit den Behörden in Moskau erlebe, ist auf schweizerischem Niveau – kaum zu glauben, aber es ist so. 

Die Armutsquote ist heute geringer als in Deutschland. Laut «Tagesschau» lag sie 2021 bei 16,9 Prozent. Der Wert für Russland lag 2022 bei 9,8 Prozent. 

Derartige Werte sind immer streitbehaftet auf Grund unterschiedlicher Lebenssituationen und Berechnungsgrundlagen. Doch darum geht es hier nicht. Hier geht es um die allgemeine Entwicklung des Landes. Und hier ist die positive Entwicklung für jedermann sichtbar.

Das zeigt sich auch im Selbstverständnis und der Selbstsicherheit der Russen, welche heute nicht zu vergleichen sind mit 1997. Dass ich entschieden habe, als Schweizer hier zu leben, sagt ja vieles.

Schweizer Standpunkt: Vor der Fussballweltmeisterschaft in Moskau 2018 wurde enorm viel in die Infrastruktur der russischen Hauptstadt investiert. Moskau ist zu einer der schönsten Städte Europas und der Welt geworden. Wir konnten dies selber bei früheren Reisen feststellen und erinnern daran, dass auch der US-TV-Moderator Tucker Carlson davon beeindruckt war. Von düsterem kommunistischem Stadtflair ist nichts mehr zu finden. Die russische Regierung hatte damals angekündigt, dass anschliessend auch in anderen Regionen nach und nach die Infrastruktur verbessert und ausgebaut werden sollte. Wie ist nach Ihrer Beobachtung der Stand heute?

Peter Hänseler: Die Infrastruktur wird in einem atemberaubenden Tempo verbessert und das wurde nicht nur als Marketing für die WM gemacht, um vor der Welt gut dazustehen. Die Moskauer Metro wird laufend ausgebaut und die Autobahnen – auch in die Regionen – haben ein Top-Niveau, was umso beeindruckender ist, als die Distanzen gigantisch sind. 

Der äussere Autobahn-Ring war bisher mit einer Länge von 108 Kilometer der sogenannte MKAD – heute ist der nächste bereits fast fertig. Der ZKAD umfährt Moskau in einer Länge von 330 Kilometer. 

Weiter möchte ich darauf hinweisen, dass in Russland 5G seit über einem Jahr in Betrieb ist – da ist die EU ein Entwicklungsgebiet. Auch das Internet zuhause ist sehr gut und günstig, sowohl per Handy als auch im Festnetz. Mein Abo mit 250 Mbit kostet mich keine 10 Euro im Monat. 

Dienstleistungen insgesamt, zum Beispiel diejenigen der Banken, befinden sich auf einem Niveau, das einem den Atem verschlägt. Wenn Sie als Ausländer, also als Tourist, nach Moskau kommen und ein Konto eröffnen wollen, dann ist das innerhalb weniger Stunden erledigt, egal wann Sie die Bank anrufen. Dazu müssen Sie nicht einmal Ihr Hotel verlassen – ein Mitarbeiter der Bank kommt zu Ihnen, eröffnet das Konto, übergibt Ihnen sofort Ihre (russische) Kreditkarte und richtet Ihnen die Bank-App auf Ihrem Mobiltelefon ein. 

Wer zum Beispiel das Taxi-Fahren in Deutschland gewohnt ist und nun das Moskauer Taxi-System kennenlernt, ist, gelinde gesagt, fassungslos ob der obsoleten Zustände in «good old Germany». 

In praktisch allen grossen russischen Städten arbeitet dasselbe System, man braucht also nur eine App. Aufgrund des geringen Preises ist das Taxi ein Transportmittel für jedermann. Die Bestellung erfolgt per Handy, der Kunde hat die Wahl zwischen verschiedenen Komfortstufen, er kann den Preis vor der Bestellung einsehen. Während des Bestellvorganges ist der Kunde ständig über den Standort des bestellten Taxis informiert und kann es bei Bedarf auch wieder abbestellen. Die Bezahlung erfolgt während der Fahrt per Handy an den Fahrer. 

Gesundheitsversorgung

Schweizer Standpunkt: Wie ist die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in Russland?

Peter Hänseler: Das Gesundheitssystem ist kostenlos und funktioniert hervorragend und effizient. Mein 84-jähriger Schwiegervater hatte in den letzten Monaten sehr grosse Herzprobleme und wurde hervorragend versorgt und wiederhergestellt – kostenlos. 

Rentner etwa, welche aus dem Ausland nach Russland übersiedeln, sind ebenfalls kostenlos versichert, sobald sie eine Aufenthaltsgenehmigung haben. 

Die Suche nach einem Facharzt gestaltet sich völlig anders als zum Beispiel in Deutschland. Während es in Deutschland inzwischen ein riesiges Problem ist, einen Facharzt zu konsultieren, ist das in Moskau eine Angelegenheit von maximal wenigen Tagen. 

Ich hatte in den letzten Monaten Rücken- und Schulterprobleme und musste Röntgenbilder und ein MRI machen lassen. Wartezeit: 24 Stunden. 

Auch hier gilt jedoch: Russland ist gross und Moskau ist noch lange nicht überall. Dennoch ist auch in den Regionen die Entwicklung Russlands deutlich spürbar. Städte wie Nizhni Nowgorod, Kasan oder Samara sprechen dafür, und die Aufzählung kann deutlich erweitert werden. 

Es ist durchaus nicht selten, dass selbst EU-Bürger sich zur Behandlung bestimmter Leiden an Ärzte in Russland wenden. 

Schweizer Standpunkt: Putin betont in seinen Reden immer wieder, dass es ihm wichtig ist, die Familien in Russland zu fördern. Was bedeutet dies konkret und wie kommt dies den Familien tatsächlich zugute?

Peter Hänseler: Die Struktur der Unterstützungsleistungen ist anders als in der Schweiz oder in Deutschland. Das ist nicht überraschend, da das System ein anderes ist. 

Familienförderung

Alle derzeit im Lande geltenden Kinderzulagen und sonstige familiäre Leistungen lassen sich in zwei grosse Gruppen einteilen: Pauschalleistungen, die einmalig bei Eintritt der Voraussetzungen für ihre Gewährung gewährt werden, und monatliche Leistungen, die regelmässig über einen längeren Zeitraum oder bis zum Auslaufen der Voraussetzungen auf eine bestimmte Unterstützungsmassnahme gezahlt werden.

Bemerkenswert ist, dass diese beschriebenen Leistungen indexiert werden, das heisst sie werden in der Laufzeit jedes Jahr zum 1. Februar entsprechend der Inflationsrate angepasst. 

Zum Beispiel erhalten die Eltern bei der Geburt eines Kindes eine Pauschalbeihilfe, die momentan über 24 000 Rubel [ca. 240.– Fr.] beträgt sowie ein sogenanntes zweckgebundenes Mutterschafts- beziehungsweise Familienkapital, das auch Alleinerziehende oder Adoptiveltern erhalten. Für das erste Kind sind dies über 630 000 Rubel, für jedes weitere Kind kommen über 830 000 Rubel hinzu. 

Das Gesetz gibt mehrere Verwendungszwecke für dieses Familienkapital vor: es kann zum Beispiel für den Erwerb oder den Umbau von Wohnraum sowie für die Abzahlung einer Hypothek verwendet werden. Möglich ist auch die Verwendung für die kapitalgedeckte Rente der Mütter oder die Ausbildung der Kinder. Sozialschwache Familien können monatliche Zahlungen erhalten. Es liegt im Ermessen der Familien, wie sie dieses Mütter- oder Familienkapital nutzen wollen – in voller Höhe oder in Teilbeträgen.

Ich werde Ihnen noch eine detaillierte Auflistung der Familienförderung in Russland zukommen lassen. (Siehe Anhang)

Um die Bedeutung dieser familienpolitischen Massnahmen zu verstehen, hilft der Schweizer oder deutsche Blick auf diese Zahlen nicht unbedingt weiter. Kommen wir zu einem realen Beispiel: 

Eine junge Frau Anfang 20 heiratete im Süden Russlands in einer Millionenstadt wohnend (also nicht im Kosmos Moskau). Sie bekam zwei Kinder und war während der ganzen Zeit berufstätig. Sie verdiente für russische Verhältnisse gut, so um die 100 000 Rubel im Monat, hatte jedoch so wie ihr Mann keine bedeutenden Rücklagen. 

Mit ihrem Einkommen und dem Einkommen ihres Mannes, der wie oft in Russland weniger verdient als die Frau, und den finanziellen familienpolitischen Massnahmen des Staates, gelang es der Familie innerhalb von 10 Jahren nicht nur eine neue Wohnung vollständig abzubezahlen. Nein, durch den Familienzuwachs wurde die erste Wohnung zu klein, so dass sie eine entsprechend grössere Wohnung benötigten. Sie verkauften die erste Wohnung und erwarben eine neue, grössere Wohnung. Auch diese ist inzwischen abbezahlt. Darüber hinaus haben sowohl der Mann als auch die Frau jeweils ein eigenes Auto. Dieses Beispiel ist keine Ausnahme. Frage an die Leser: Können Sie sich eine solche Geschichte für eine Durchschnittsfamilie in der Schweiz vorstellen?

Rentenreform

Schweizer Standpunkt: Als wir vor vier Jahren Russland besuchten, stand gerade eine Absicherung der Rentenversorgung zur Debatte. Wie ist die Rentenregelung in Russland?

Peter Hänseler: Inzwischen ist die Rentenreform beschlossen. In Russland liegt das gesetzliche Renteneintrittsalter nach der neuen Regelung für Männer bei 65 und für Frauen bei 60 Jahren. Die derzeit in Russland geltende Übergangszeit für den Ruhestand endet im Jahr 2028. Zu diesem Zeitpunkt werden Männer, die 1963 geboren wurden, mit 65 Jahren und Frauen, die 1968 geboren wurden, mit 60 Jahren in Rente gehen. Die Sozialrente ist sehr gering, sie beträgt 7153 Rubel [ca. 72.– Fr.].

Es gibt jedoch Unterstützungsrenten auf Grund von Besonderheiten in der Erwerbsbiografie, zum Beispiel für Opfer von Tschernobyl in Höhe von 200 bis 250 Prozent der Grundrente. 

Die Durchschnittsrente in Russland beträgt inzwischen etwas über 18 000 Rubel.

Schweizer Standpunkt: Meine Frau und ich leben – von Deutschland kommend – erst seit dem Jahr 2000 in der Schweiz und sind hier eingebürgert. Im Sinne von Egon Bahr und Willi Brandt war und ist auch uns der sogenannte «Wandel durch Annäherung» ein Herzensanliegen. Bei unseren Reisen nach Russland hat es uns sehr berührt, dass uns von allen Russen, die wir kennenlernen durften, immer Freundschaft entgegengebracht wurde, trotz der schrecklichen Taten unserer Vorfahren gegenüber der russischen Bevölkerung. Wie denken die Russen heute darüber, dass die deutsche Regierung wieder Waffen gegen Russland liefert und der Kanzler unter Druck gesetzt wird, weitreichende Mittelstreckraketen zu liefern, mit denen dann zum Beispiel die Krim-Brücke zerstört werden soll?

Peter Hänseler: Auch ich war bereits 1997 überrascht, wie freundschaftlich die Deutschen in Russland behandelt wurden. Ich traf viele Deutsche, welche in Russland lebten und arbeiteten und die nie auch nur einen dummen Spruch über den Zweiten Weltkrieg zu hören bekamen. Das liegt an einer der grössten Qualitäten des russischen Volkes: Sie unterscheiden zwischen Regierung und Menschen. Auch heute – nachdem die Aggressivität gegen Russland einen Höchststand erreicht hat – muss man sich in Russland als Deutscher keine Sorgen machen. 

Über die Aussagen und die Aggression, die von den deutschen Medien und der Regierung kommen, sind die Russen jedoch bestürzt und denken – wohl zu Recht – dass es Deutschland nie lernt. 

Der Wille auf russischer Seite ist absolut vorhanden, das Verhältnis zu Deutschland auf allen Ebenen zu verbessern. Nur gehört dazu auch der Wille der Gegenseite. 

Zur Schweizer Neutralität

Schweizer Standpunkt: In der Schweiz ist die nötige Stimmenzahl zustande gekommen, dass über die Neutralitätsinitiative abgestimmt werden muss. Gegen die Stimmen aller grossen Medienhäuser und des Bundesrats soll zukünftig in unserer Bundesverfassung verankert werden, dass die Schweiz – als Depositarstaat des «Internationalen Roten Kreuzes» – nicht nur keine Waffen an Konfliktparteien liefert, sondern auch keine Sanktionen gegen Konfliktparteien beschliesst. Stattdessen sollte die Schweiz alle Möglichkeiten nutzen, sich diplomatisch für Konfliktbeilegungen einzusetzen. 

Seit über zwei Jahren wird in Bern und in unseren Medien das Gegenteil vertreten und eindeutig gegen Russland Partei ergriffen. Die Ursachen des Ukraine-Kriegs und die Missachtung der Minsker Verträge sowie der Abkommen von Istanbul und der Helsinkier Verträge werden ausgeblendet. Der National- und auch der Ständerat haben beschlossen, den Bundesrat zu beauftragen, einen internationalen Rechtsmechanismus zu entwickeln, der es erlaubt, die im Ausland angelegten Gelder der russischen Zentralbank zu beschlagnahmen, um sie der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Wie wird in Russland und in anderen, nicht westlich orientierten Ländern auf dieses unerhörte Vorgehen der Schweiz reagiert?

Peter Hänseler: Es ist in der Tat so, dass die Schweiz die Politik der USA nicht nur befolgt, sondern vollends umsetzt. Die «Neue Zürcher Zeitung» etwa, das Leitmedium in der Schweiz, verhält sich in seiner Berichterstattung – besser Propaganda – sogar aggressiver als etwa die «New York Times». Sie geht sogar so weit, dass sie Fakten, welche nicht zu ihrem Narrativ passen, vollends ausblendet. So hat die «Neue Zürcher Zeitung» etwa die Berichterstattung der «New York Times» über die CIA-Bunker in der Ukraine komplett unterschlagen. 

Da die «Neue Zürcher Zeitung» jedoch in der Wirtschaft und Politik der Schweiz nach wie vor ein hohes Ansehen hat und die Leser diesem Medium vertrauen, entscheiden sich die Wirtschaft und die Politik aufgrund dieser Berichterstattung. Wir haben bereits im Dezember 2022 in unserem Blog* nachgewiesen, dass die «Neue Zürcher Zeitung» übelste Propaganda betreibt. 

Die Situation ist fatal. Dass die Schweiz sich heute immer noch als neutral bezeichnet, ist ein Witz – mehr nicht. Die Quittung hat die offizielle Schweiz jedoch bereits erhalten, sie hat es einfach noch nicht gemerkt: Die sogenannte Friedenkonferenz im Juni am Bürgenstock wird zu einem Fiasko werden. Nicht nur fehlen die Russen, sondern auch die meisten BRICS-Staaten, welche vom Bundesrat als essentiell für das Gelingen dieser Konferenz beschrieben wurden. 

Irgendwann – möglicherweise noch diesen Sommer – wird die Schweiz merken, dass sich nicht Russland, sondern die Schweiz ins diplomatische Abseits gespielt hat. Die Welt hat sich in zwei Blöcke geteilt: Der kollektive Westen (USA, EU, Japan, Australien und Südkorea) steht dem Rest der Welt entgegen, der 90% der Weltbevölkerung stellt und Globaler Süden genannt wird. Die Schweiz hat nicht nur den Goodwill von Russland, sondern wohl des gesamten globalen Südens verspielt. 

Gott sei Dank verfügt die Schweiz als direkte Demokratie über die Instrumente von Initiative und Referendum. Das Zustandekommen der Neutralitätsinitiative ist ein klares Zeichen dafür, dass ein bedeutender Teil der Bevölkerung mit der Politik in Bern nicht einverstanden ist. Wann über die Initiative abgestimmt wird und ob sie angenommen wird, ist zum heutigen Zeitpunkt nicht zu beurteilen. Falls dies geschieht, ist der Gang nach Canossa angesagt. Aber bis dahin kann noch viel passieren. 

Beschlagnahmung russischer Gelder?

Falls die Schweiz sich tatsächlich dazu hinreissen lässt, russische Vermögen oder deren Zinserträge zu beschlagnahmen, wird das für das Renommee der Schweiz und die Finanzwirtschaft katastrophale Konsequenzen haben. Die Schweiz lebt zum grossen Teil vom Nimbus der Rechtssicherheit. Jeder Völkerrechtler, welcher sich bis anhin über die Beschlagnahmung geäussert hat, bezeichnete diese als illegal – das ist ein Fakt. Die Schweiz wird es somit in Zukunft schwer haben, ausländische Gelder für ihre Finanzindustrie zu erhalten. 

Der Glaube, dass nur die Russen als Kunden wegbrechen, ist naiv und dumm. Wir würden uns als Bananenrepublik qualifizieren und als Schosshund Brüssels und Washingtons. Dazu kommt, dass die Schweiz etwa 6 Milliarden der russischen Zentralbankreserven hält, die Schweiz hat jedoch über 26 Milliarden in Russland investiert. Wie Russland auf eine Beschlagnahmung reagieren wird, ist offen, aber das scheint kein gutes Geschäft für die Schweiz zu werden. 

Russland ist keinesfalls gewillt, den Raub russischen Eigentums ungestraft hinzunehmen. Es gibt inzwischen eine grosse Entschlossenheit, sämtliche Möglichkeiten auszuschöpfen, die eigenen Interessen zu verteidigen, auch sogenannte asymmetrische.  

Sollten die westlichen Länder Beschlagnahmungen durchführen, so wird Russland mit grosser Wahrscheinlichkeit Massnahmen ergreifen, die wertmässig dem durch wen auch immer beschlagnahmten Vermögen entsprechen. Dabei wird es wohl auch vor Vermögenswerten von Unternehmen und Privatpersonen nicht Halt machen, da die westlichen Staaten keine grossen Vermögen in Russland halten. 

Zahlreiche private Initiativen im Sinne der Völkerfreundschaft

Schweizer Standpunkt: Im Zuge der feindlichen Stimmungsmache gegen Russland in Europa wurden zahlreiche kulturelle und sportliche Verbindungen zwischen den Bevölkerungen gecancelt. Sogar die Teilnahme von behinderten Menschen aus Russland an den Paralympics wurde verboten. Städtepartnerschaften werden von den Behörden nicht mehr unterstützt. Welche Möglichkeiten sehen Sie heute, im Sinne der Völkerfreundschaft aktiv zu werden? 

Peter Hänseler: Es gibt zahlreiche private Initiativen diverser Art. Alle haben eins gemeinsam: Sie werden von offizieller westlicher Seite massiv behindert, die Initiatoren teils massiv unter Druck gesetzt oder Konten gesperrt. Ein Beispiel ist die «Friedensbrücke – Kriegsopferhilfe e.V.», ein Verein, der seit 2015 die Opfer des Ukraine-Konflikts im Donbass, in Lugansk und Donezk, materiell unterstützt. Dem Verein wurde in Deutschland inzwischen die Gemeinnützigkeit aberkannt, dennoch macht er weiter. Es gab wiederholt Kontenkündigungen. Die Gründerin und Vorstandsvorsitzende, Liane Kilinc, muss inzwischen aus Sicherheitsgründen in Russland leben. Übrigens auch die Journalistin Dagmar Henn, die sich für den Verein einsetzte, suchte und erhielt inzwischen politisches Asyl in Russland. 

Eine weitere Initiative ist «Druschba-Global – deutsch-russische Freundschafts- und Friedensfahrten». Dieser private Verein veranstaltet in jedem Jahr Freundschaftsreisen nach Russland. Auch Schweizer nehmen daran regelmässig teil. Über die Reisen halten die Teilnehmer dann Vorträge. 

Schweizer Standpunkt: Herr Hänseler, vielen Dank für das Gespräch!

(Interview Georg Koch)

Anhang

Familienzulagen in Russland

Pauschalbeihilfe bei der Geburt eines Kindes

Diese Art von Beihilfe kann von allen im Land lebenden Familien in Anspruch genommen werden, unabhängig vom Einkommen und der Anzahl der Kinder.

Wer kann die Pauschalbeihilfe erhalten?

Nur ein Elternteil kann die Pauschalbeihilfe erhalten – entweder der Elternteil, der arbeitet, oder derjenige, der sie beantragt, wenn beide Elternteile arbeiten. Sind die Eltern geschieden, hat derjenige Anspruch auf die Leistung, bei dem das Kind lebt.

Die Beihilfe steht allen Erwerbstätigen zu – nicht nur russischen Staatsbürgern, sondern auch ausländischen Staatsbürgern und Staatenlosen mit ständigem oder vorübergehendem Wohnsitz in Russland sowie Bürgern der Mitgliedstaaten der Eurasischen Wirtschaftsunion, die in Russland leben. Bei Nichterwerbstätigen kann die Leistung nur von Russen in Anspruch genommen werden.

Bei der Geburt von zwei oder mehr Kindern wird sie für jedes Kind bezahlt, bei der Geburt eines tot geborenen Kindes entfällt die Zahlung.

Höhe der Geburtenzulage

Der Grundbetrag der Pauschalleistung bei der Geburt eines Kindes beträgt 8000 Rubel, wird aber jährlich indexiert. Derzeit ist die Leistung auf 24 604,30 Rubel festgesetzt. 

Die Höhe des Kindergeldes wird anhand des Geburtsdatums des Kindes festgelegt. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Elternteil im Rahmen eines Arbeitsvertrags oder als Freiberufler arbeitet, selbständig oder arbeitslos ist. Die Höhe der Beihilfe ist für alle Empfänger gleich, mit Ausnahme von Einwohnern von Bezirken und Ortschaften, für die regionale Lohnkoeffizienten festgelegt wurden; hier wird die Höhe der Beihilfe durch Anwendung dieser Koeffizienten bestimmt.

Wie erhält man die Geburtenzulage?

Erwerbstätige Bürger erhalten die Beihilfe proaktiv (ohne Antrag) auf der Grundlage von Informationen über die staatliche Registrierung der Geburt eines Kindes.

Mutterschafts(familien)kapital

Das Mutterschafts(familien)kapital ist seit vielen Jahren eine wichtige Unterstützungsmassnahme für Familien mit Kindern. Es wurde 2007 eingeführt und ist zu einem wichtigen Bestandteil des nationalen Projekts «Demografie» geworden. Ursprünglich konnte ein Mutterschaftskapital-Zertifikat nur bei der Geburt eines zweiten oder weiteren Kindes beantragt werden. Später wurde das Programm auf das erste Kind ausgeweitet. 

Das Mutterschaftsgeld kann in Anspruch genommen werden von:

•  Frauen, die ab dem 1. Januar 2007 ein zweites Kind zur Welt gebracht (adoptiert) haben;
•  Frauen, die ab dem 1. Januar 2007 ein drittes Kind oder weitere Kinder zur Welt gebracht (adoptiert) haben, wenn sie zuvor kein Mutterschaftsgeld erhalten haben;
•  Männern, die alleinige Adoptiveltern eines zweiten oder dritten Kindes oder nachfolgender Kinder sind und die zuvor keinen Anspruch auf zusätzliche staatliche Unterstützungsmassnahmen hatten, wenn die gerichtliche Entscheidung über die Adoption am 1. Januar 2007 in Kraft getreten ist;
•  Frauen, die ab dem 1. Januar 2020 ihr erstes Kind zur Welt gebracht (adoptiert) haben;
•  Männern, die alleinige Adoptiveltern des ersten Kindes sind und die das Recht auf die Zahlung noch nicht ausgeübt haben, wenn der Gerichtsbeschluss über die Adoption ab dem 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist;
•  Männern, die ein zweites oder drittes Kind oder nachfolgende Kinder, die ab dem 1. Januar 2007 geboren wurden, erziehen und deren Väter (Adoptiveltern) sind, wenn die Frau, die nicht Bürgerin der Russischen Föderation war und die betreffenden Kinder geboren hat, verstorben ist oder für tot erklärt wurde;
•  Männern, die das erste nach dem 1. Januar 2020 geborene Kind erziehen und die Väter (Adoptiveltern) dieses Kindes sind, im Falle des Todes der Mutter des Kindes, die nicht Bürgerin der Russischen Föderation war und die diese Kinder geboren hat, oder wenn sie für tot erklärt wird.

Die wichtigste Bedingung ist, dass das Kind bei der Geburt die russische Staatsbürgerschaft haben muss und die Mutter am Tag der Geburt des Kindes die russische Staatsbürgerschaft besitzen muss. Der Wohnsitz der beiden spielt keine Rolle.

Es sei auch daran erinnert, dass das Recht auf Mutterschaftsgeld nicht für Kinder gilt, deren Eltern die elterlichen Rechte entzogen wurden oder deren Adoption annulliert wurde, für Kinder, die in einer Entbindungsklinik oder einer anderen medizinischen Einrichtung zurückgelassen wurden, für Kinder, für die eine schriftliche Zustimmung der Mutter zu ihrer Adoption vorliegt, für Kinder, die die russische Staatsangehörigkeit bei der Geburt nicht erworben haben, sowie für adoptierte Kinder, die zum Zeitpunkt der Adoption Stiefkinder oder Stieftöchter dieser Personen waren.

In diesem Fall hat der Vater (Adoptivelternteil) eines Kindes das Recht auf das Kapital, unabhängig von der russischen Staatsangehörigkeit oder dem Status eines Staatenlosen. Allerdings nur dann, wenn die Mutter gestorben ist, für tot erklärt wurde, ihr die elterlichen Rechte entzogen wurden oder sie eine vorsätzliche Straftat gegen das Kind (die Kinder) begangen hat, die zum Entzug oder zur Einschränkung der elterlichen Rechte geführt hat, das Kind in einer Entbindungsklinik oder einer anderen medizinischen Einrichtung zurückgelassen hat, sowie wenn eine schriftliche Zustimmung der Mutter zur Adoption des Kindes vorliegt oder die Adoption aufgehoben wurde. Das Recht auf zusätzliche Massnahmen der staatlichen Unterstützung haben Väter nicht, die Stiefväter in Bezug auf das frühere Kind sind, dessen Reihenfolge der Geburt (Adoption) bei der Entstehung des Rechts auf Mutterschaftsgeld berücksichtigt wurde, sowie wenn das Kind nach dem Tod der Mutter (Adoptierende) als ohne elterliche Sorge zurückgelassen anerkannt wird.

Hat auch der Vater den Anspruch auf das Mutterschaftskapital verloren, wird es auf ein minderjähriges Kind oder einen Erwachsenen, der ein Vollzeitstudium absolviert, bis zum Ende seines Studiums (längstens jedoch bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres) übertragen.

Höhe des Mutterschaftskapitals

Die Höhe des Mutterschaftskapitals wird jedes Jahr an die Inflation angepasst, unabhängig vom Datum der Ausstellung der Bescheinigung. Die Indexierung erfolgt jedoch nicht zu Beginn des Jahres, sondern ab dem 1. Februar. Die Höhe des Mutterschaftskapitals ist derzeit wie folgt:

•  für das erste Kind – 630 380,78 Rubel;
•  für das zweite Kind und jedes folgende Kind – 833 024,74 Rubel;

Es ist zu berücksichtigen, dass sich bei teilweiser Inanspruchnahme des Mutterschaftsgeldes nach der Indexierung nur sein Saldo erhöht. Der zuvor ausgegebene Betrag ändert sich nicht. Wenn zum Beispiel noch 135 000 Rubel auf dem Zertifikat vorhanden sind, wird dieser Betrag um 7,4% indexiert. Wenn das Mutterkapital bis zum 1. Februar noch nicht aufgebraucht ist, erhöht sich der gesamte Betrag.

Das Zertifikat muss nach der Indexierung nicht geändert werden, da es lediglich den Anspruch auf das Mütterkapital bestätigt. Der tatsächliche Betrag des Mutterschaftskapitals, einschliesslich seines Saldos, ist in der Saldenliste auf dem Portal der staatlichen Dienste zu finden.

Wie erhält man das Mutterschaftskapital?

Gegenwärtig wird das Mutterschaftsgeld den Familien proaktiv gewährt – bei der Registrierung der Geburt eines Kindes. Die Bescheinigung sollte innerhalb von 5 Arbeitstagen nach der Anmeldung der Geburt eines Kindes im Standesamt automatisch im persönlichen Kabinett auf dem Portal der staatlichen Dienste eingehen. 

Wofür kann man das Mütterkapital ausgeben?

Das Gesetz sieht mehrere Verwendungszwecke für die Mittel des Mütterkapitals vor:

•  Verbesserung der Wohnverhältnisse, d. h. Kauf von Wohnraum, Anzahlung auf eine Hypothek, Rückzahlung von Wohnungsbaudarlehen, Bau oder Umbau von Wohnraum;
•  monatliche Zahlungen für ein Kind bis zu 3 Jahren an einkommensschwache Familien;
•  Ausbildung von Kindern;
•  kapitalgedeckte Rente für Mütter;
•  Kauf von Waren und Bezahlung von Dienstleistungen für behinderte Kinder.

Es liegt im Ermessen des Empfängers, wie er das Mütterkapital ausgibt – in voller Höhe oder in Teilbeträgen. Es ist z. B. möglich, einen Teil der Mittel für eine monatliche Zahlung zu verwenden und den Rest für die Abzahlung der Hypothek einzusetzen.

Russland heute – Innenansichten eines Schweizers – Peter Hänseler im Interview mit Schweizer Standpunkt

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