Nach zahllosen ausländischen Invasionen und Kriegen: Vietnam pflegt seine Neutralität – zum eigenen Vorteil
In dieser Woche feiert Vietnam den 50. Jahrestag seiner Wiedervereinigung und seiner Unabhängigkeit. Dazu Gedanken, die im gegenwärtigen geopolitischen Umfeld wichtig sind.
Felix Abt

In dieser Woche feiert Vietnam den 50. Jahrestag seiner Wiedervereinigung und seiner Unabhängigkeit, der Jahre blutiger Kriege vorausgingen: zunächst der Französische Krieg von 1946 bis 1954, dann der Amerikanische Krieg von 1955 bis 1975, der im Westen als Vietnamkrieg bezeichnet wird. Dieser Krieg dauert eigentlich noch immer an, fordert er doch nach wie vor Opfer: Menschen sterben noch immer durch bislang nicht explodierte amerikanische Bomben und Minen. Und immer noch werden Babys tot oder mit schrecklichen Missbildungen geboren, weil die USA während des Krieges hochgiftiges Dioxin („Agent Orange“) versprühten. Der Autor unterstützt selbst ein vietnamesisches Waisenhaus für Kinder, die durch amerikanisches Dioxin so stark geschädigt wurden, dass sie niemals alleine überleben können:

Dennoch gibt es heute keine Ressentiments mehr gegenüber den Amerikanern. Sie sind in Vietnam willkommen und werden höflich behandelt. Vor ein paar Jahrzehnten war das noch etwas anders: Als ich am Tag des Terroranschlags (oder war es vielleicht doch ein Inside-Job, um einen Vorwand für den Irak-Krieg zu konstruieren?) am 11. September 2001 auf die Zwillingstürme in New York durch die Straßen von Hanoi ging, wurde ich von einem lauten Hupkonzert überrascht: Die Schadenfreude der Vietnamesen, die von den Amerikanern malträtiert worden waren und während des Krieges nicht davor zurückschreckten, Krankenhäuser in Hanoi zu bombardieren, war unüberhörbar.
Solche spontanen Kundgebungen, die sich gelegentlich auch gegen China richteten, wurden von den Behörden zwar geduldet, aber nicht gutgeheißen. Die offizielle Politik Vietnams besteht bis heute darin, freundschaftliche Beziehungen zu allen Nationen zu unterhalten. Die Vietnamesen sind eben Pragmatiker: Sie wollen die Geschichte keineswegs vergessen, aber gleichzeitig in die Zukunft blicken und nach Harmonie und Wohlstand streben.
Die Geschichte Vietnams ist eine Geschichte der ausländischen Invasionen
Die Vietnamesen sind stolz auf ihre Vergangenheit, die eine Geschichte fremder Angreifer ist, denen sie standhielten. Zweimal versuchten die Mongolen, das Land zu überrennen, aber die Vietnamesen schlugen sie erfolgreich zurück. Davor und danach gab es auch andere Angriffe aus dem Norden – von verschiedenen chinesischen Dynastien. Auch Frauen zeichneten sich als Heldinnen aus: Die beiden Trung-Schwestern oder Generalin Ba Trieu führten vietnamesische Truppen erfolgreich gegen die Invasoren. Trieu, auf die ich auch in meinem Video “The Women Generals & Unique Heroes In Vietnam, Who Shaped History!” eingehe, erklärte: „Ich werde die Angreifer besiegen, unser Land zurückerobern, die Fesseln der Leibeigenschaft sprengen und mich nicht zur Konkubine eines Mannes machen lassen.“

Das vietnamesische Königreich Dai Viet wurde mehrmals auch von Süden her vom Königreich Champa (192 bis 1832 n. Chr.) angegriffen, das sich auf dem Gebiet des heutigen Zentral- und Südvietnam befand. Dabei wurde unter anderem die damalige vietnamesische Hauptstadt Thang Long verwüstet. Die Vergeltung der erzürnten Vietnamesen ließ nicht lange auf sich warten: Sie überrannten das Champa-Königreich und beendeten seine Herrschaft – nicht zuletzt dank der überlegenen Militärtechnik, die sie von ihren chinesischen Nachbarn erhielten –, und dehnten ihr Land ab 1471 auf Zentral- und Südvietnam aus. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Vietnam dann von Japan überfallen und besetzt, viele seiner Einwohner wurden unterdrückt, misshandelt oder ermordet. Doch wie zu China hat sich auch das Verhältnis zu Japan längst normalisiert.

Vietnams geografische Lage – seine lange Küstenlinie, die Nähe zu China und das fruchtbare Land – machte es sowohl zu einem Angriffsziel als auch zu einer Pufferzone. Doch trotz wiederholter Invasionen bewahrte Vietnam ein starkes Identitätsgefühl, absorbierte oft fremde Einflüsse und leistete gleichzeitig erbitterten Widerstand gegen ausländische Vorherrschaft.
Widerstand gegen Kolonialmächte
Die Vietnamesen widersetzten sich auch der Kolonisierung: Zunächst erfolgte diese fast tausend Jahre lang durch die Chinesen (111 v. Chr. – 939 n. Chr. und nochmals 1407-1428), und später fast hundert Jahre lang durch die Franzosen (1862 – 1954) . Frankreich behandelte Vietnam als Kolonie, um wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen. Die Bevölkerung und die Ressourcen des Landes wurden zu diesem Zweck ausgebeutet. Um seinen Gewinn zu optimieren, brachte Frankreich westliche Bildung nach Vietnam, wobei es der französischen Sprache den Vorrang gab und den Unterricht in vietnamesischer Sprache vernachlässigte, und errichtete eine Infrastruktur nach eigenen Bedürfnissen (Eisenbahnen, Rechtssystem). Das heute sichtbarste französische Erbe ist das Baguette: Ein langer, dünner französischer Brotlaib, der für seine knusprige Kruste und sein weiches Inneres bekannt ist und überall in der Reishochburg Vietnam gegessen wird.
Es war jedoch China, das lange Zeit versuchte, Vietnam durch die Einführung des Konfuzianismus, der chinesischen Sprache, Architektur, Bürokratie und kultureller Praktiken in sein Reich einzugliedern. Prüfungen im öffentlichen Dienst, konfuzianische Erziehung und der Austausch von Lebensmitteln waren ein wichtiger Teil dieser Bemühungen. Der chinesische Philosoph Konfuzius, der vor 2.500 Jahren lebte, zog die Meritokratie (ungenau mit „Leistungsgesellschaft“ übersetzt) der feudalen Klassengesellschaft vor. Er befürwortete Bildung als das entscheidende Mittel zur Förderung des Glücks des Einzelnen unabhängig von seiner sozialen Herkunft. Es ist kein Zufall, dass es jedes Jahr vietnamesische Studenten aus bescheidenen Verhältnissen schaffen, an amerikanischen Spitzenuniversitäten wie Harvard, Yale und MIT zu studieren und von ihnen Stipendien zu erhalten.

Trotz der Divergenzen macht die geografische Nähe Vietnams zu China eine Zusammenarbeit unumgänglich. Professor Kishore Mahbubani, ein ehemaliger Spitzendiplomat aus Singapur, zitierte die Äußerungen eines hochrangigen vietnamesischen Politikers: “Jeder Vietnamese, der Staatsoberhaupt werden will, muss in der Lage sein, China die Stirn zu bieten und gleichzeitig mit China auszukommen.” Die Vietnamesen bauen künstliche Inseln im Südchinesischen Meer auf, auf die sie Gebietsansprüche erheben. Sie tun dies diskret und unauffällig, ohne die Hilfe einer ausländischen Macht – um die Chinesen nicht zu provozieren. Sie werden auch nicht zulassen, dass sie von den USA als Rammbock gegen China benutzt werden. Sie würden sich auch nicht von China gegen die USA benutzen lassen.
Kein Appeasement, sondern Neutralität zur effektiven Verteidigung der eigenen Interessen
Die Vereinigten Staaten sind der größte Exportmarkt Vietnams mit einem Exportvolumen von rund 110 Milliarden Dollar. China ist jedoch der größte Handelspartner Vietnams mit einem Gesamthandelsumsatz von 175,57 Milliarden Dollar im Jahr 2022. Im Gegensatz zur pseudo-neutralen Schweiz, die im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt 2.250 Sanktionen gegen russische Bürger, Unternehmen und Organisationen verhängt hat, hat Vietnam keine einzige Sanktion gegen Russland verhängt. Im Gegenteil: Vietnam und Russland pflegen intensive Kontakte, wobei sich hochrangige vietnamesische und russische Politiker regelmäßig treffen und wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen fortentwickeln.
Die Direktflüge von russischen Städten nach Nha Trang nehmen kontinuierlich zu. Das neutrale Vietnam profitiert von Russland, dem europäischen Land mit dem stärksten Wirtschaftswachstum. Und auf Postern in der ganzen Stadt Nha Trang im Süden Vietnams – von Touristen oft als “Strandhauptstadt” Vietnams bezeichnet – wurden kürzlich russische Touristen auf Vietnamesisch herzlich willkommen geheißen:

Die politischen und medialen Eliten der Schweiz haben inzwischen vergessen, dass die Eidgenossenschaft seit dem Vertrag von Paris 1815 als neutraler Staat von Kriegen verschont geblieben ist und deshalb als von Natur aus mausarmes Land – ohne Bodenschätze, ohne ausreichende Landwirtschaft zur Ernährung der Bevölkerung, ohne Zugang zum Meer – dennoch prosperieren konnte. Vietnam verfolgt genau dieses Konzept, das von den Schweizer Eliten heute verraten wird: Hanoi ist sich der Tatsache bewusst, dass die Ukraine, bzw. das Regime, das 2014 durch einen vom Westen unterstützten Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung an die Macht kam, den Weg der Zerstörung des eigenen Landes eingeschlagen hat, als es seine verfassungsmäßig verankerte Neutralität aufgab.

Die Vietnamesen wissen auch, dass die Philippinen, die den Bau amerikanischer Raketenbasen gegen China zuließen, im Falle eines Konflikts zwischen den USA und China die Zerstörung ihres Landes riskieren – ebenso wie die chinesische Provinz Taiwan, deren regierende Separatisten die Stationierung amerikanischer Soldaten zuließen. Die wichtigste Lehre, die Vietnam aus seiner eigenen Geschichte und aus dem Studium der Geschichte anderer Länder zieht, ist daher diese: Sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen und sich nicht zum Instrument fremder Interessen zu machen!
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