Eine Stimme aus der Ukraine – eine Mutter blickt auf ihre Heimat
Wir haben eine Ukrainerin gebeten, ihre Sicht als Mutter und Bürgerin dieses Nachbarn Russlands aus menschlicher Warte zu beschreiben. Ein packendes und berührendes Essay, das die Folgen der Geopolitik aus persönlicher Sicht betrachtet.
Peter Hänseler
Einleitende Worte von Peter Hänseler
In unserem Freundeskreis gibt es viele Ukrainerinnen und Ukrainer. An den meisten gemeinsamen Nachtessen in Moskau mit Freunden und Bekannten sind etwa die Ehefrau oder der Ehemann aus der Ukraine. In Russland leben Millionen – man spricht von bis zu 12 Millionen – Ukrainer und Ukrainerinnen. Seit 2022 sind Millionen dazugekommen. Sie leben friedlich beim grossen Nachbarn. Sie werden in Russland als Brüder und Schwestern und nicht als Ausländer wahrgenommen. Sie leben ihre Kultur mit allem, was dazugehört.
Die Autorin des folgenden Essays ist eine enge Gesprächspartnerin und Freundin. Sie lebt, aus Gründen, die das Essay offenbart, nicht mehr in der Ukraine. Ihr Beruf hat nichts mit Journalismus oder Publizistik zu tun, sie ist gebildet und Mutter von Söhnen, die noch immer in der Ukraine leben. Somit ist es notwendig, ihre Identität zu schützen. Ihre Ausführungen lesen Sie in nicht redigierter Form. Ein Bericht, der in seiner Echtheit und Offenheit berührt und betroffen macht. Ein Zeitzeugnis, dem in den Leitmedien kein Platz eingeräumt würde. Der Text wurde auf Russisch verfasst und von uns übersetzt.
Zeilen einer ukrainischen Mutter
Ich bin in der Ukraine geboren und aufgewachsen, in der sehr schönen und jahrhundertealten Stadt Kiew. Meine erwachsenen Söhne sind ebenfalls in Kiew geboren, aufgewachsen und befinden sich auch jetzt noch in der Ukraine. Sie können die Ukraine seit mehr als zwei Jahren nicht mehr verlassen.
Peter Hänseler lud mich ein, meine Gedanken über all das zu teilen, was ich als Mutter empfinde, deren Kinder seit Februar 2022 von ihrem eigenen Staat gefangen gehalten werden, ohne die Möglichkeit und sogar ohne das Recht auf ein normales Leben und Freiheit. Ich habe dieses Angebot dankbar angenommen.
Ich beginne diese Geschichte damit, dass wir 2019 mit großen Erwartungen der Machtübernahme durch Zelensky entgegengesehen haben. Meine Söhne haben für ihn gestimmt. Zelensky sprach damals Russisch, sein Wahlprogramm war auf Frieden und ein Ende des Krieges im Donbass ausgerichtet. Nach und nach mussten wir erfahren, dass es sich dabei nur um ein Wahlversprechen handelte, um Präsident zu werden. Heute wissen wir, was für eine Täuschung das alles war, der Betrug an einem ganzen Land. Einen schlechteren Präsidenten für die Ukraine kann man sich nicht vorstellen.
Als im Februar 2022 alles begann war ein weiteres großes Problem, dass die überwältigende Mehrheit der Ukrainer glaubte, die Ukraine hätte sich nichts zuschulden kommen lassen, dass sie nur ihren Weg nach Europa und in die NATO suchte und daher jedes Recht hatte, ihre Konflikte, sogar im Donbass mit ihren eigenen Bürgern, mit Gewalt zu lösen. So hat uns die westliche Propaganda beeinflusst.
Wie konnte es geschehen, eine so große Zahl von Ukrainern einer solchen Gehirnwäsche zu unterziehen, dass sogar der Grundinstinkt – die Selbsterhaltung des menschlichen Lebens – nicht mehr funktionierte? Und der Todeskult mit Johnsons Slogan «Kampf bis zum letzten Ukrainer!» kostete bis heute Hunderttausende von Menschenleben und machte eine ganze Generation von Ukrainern zu Krüppeln.
Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es das erste Mal in der Welt, dass ein Land von solchem Ausmaß auf der Ebene der Gesetzgebung und unter dem Deckmantel der Verteidigung der Demokratie in ein riesiges Gefängnis verwandelt wurde. Wie wurde es möglich, dass die Ukrainer in dieser Hölle gelandet sind? Wann hat diese geistige Verseuchung begonnen?
Der erste Schuss wurde sehr lange vor den heutigen Ereignissen abgefeuert.
Wie viele Ukrainer habe ich mich früher nicht besonders für Politik interessiert, ich hatte einfach keine Zeit und keine Energie, denn das Leben in der Ukraine war schon immer schwierig. Man musste hart arbeiten und konnte sich immer nur auf seine eigene Kraft verlassen, nicht auf die Hilfe des Staates. Heute bedaure ich, dass ich in der Vergangenheit den seltsamen Todesfällen verschiedener Politiker, berühmter Journalisten oder Künstler, die die Ukraine vor der gefährlichen Geopolitik warnten, wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Heute weiß ich, dass sie echte Patrioten waren, die ihr Land und seine Menschen wirklich liebten und ihr Land bewahren wollten. Heute gibt es keine solchen Persönlichkeiten mehr, sie wurden alle seit den 90er Jahren systematisch umgebracht.
Ich werde einige Beispiele nennen, die jeder in der Ukraine kennt, obwohl ich sicher bin, dass es noch viel mehr gab.
1991 kandidierte Wjatscheslaw Tschernowol für das Amt des Präsidenten der Ukraine. Er war der erste Politiker, der sich für eine echte föderale Struktur des ukrainischen Staates einsetzte. Im Jahr 1999 kam er bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Die Ermittlungen zogen sich über viele Jahre hin, da vieles darauf hindeutete, dass der Unfall kein zufälliges Ereignis war.
Oles Buzina war ein berühmter Schriftsteller, Journalist und Politiker, der die russische Sprache und Kultur verteidigte. Er setzte sich für eine Annäherung zwischen der Ukraine und Russland ein und wurde 2015 am helllichten Tag im Eingang seines eigenen Hauses in Kiew erschossen. Die Ermittlungen zu dem Mord verliefen ergebnislos.
Ebenfalls 2015 kam der bekannte und beliebte Sänger und Musiker Kuzma Skryabin (Künstlername; richtiger Name Andrey Kuzmenko) unter sehr merkwürdigen Umständen bei einem Unfall ums Leben. Er kritisierte den Maidan und sprach sich gegen die Fortsetzung des Krieges im Donbass durch die Ukraine aus.
«Der Maidan war geplant, um die Asche mit unseren Händen zu harken. Sie mussten Janukowitsch loswerden, der den Oligarchen im Weg stand. Nach dem Maidan wurde es noch schlimmer – der Krieg begann», sagte Andriy Kuzmenko.
Fast 30 Jahre lang hat die Ukraine methodisch bestimmte Narrative geformt, von denen man wusste, dass sie eine geopolitische Zeitbombe sind.
30 Jahre! Denken Sie einmal über diesen Zeitraum nach. Eine ganze Generation ist unter diesen Parolen aufgewachsen. Kein Wunder, dass meine Söhne, als ich ihnen im Februar 2022 von meinen Überlegungen erzählte, einfach aufhörten, mit mir zu reden, weil sie dachten, ich würde den Aggressor unterstützen. Schließlich ist es sehr bequem, dem Narrativ «Es war Putin, der die Invasion begonnen hat» zu folgen. Ich brauchte viel Zeit, viel Geduld und viele Gespräche, bis meine Söhne selbst begannen, das ganze Bild zu sehen. In solchen Momenten habe ich es wirklich bedauert, dass wir vorher nicht viel über Politik im Allgemeinen gesprochen haben.
Jetzt gibt es in der Ukraine keine Führungspersönlichkeit mehr, die das Land aus der Katastrophe und dem Zerfall führen könnte. Kann das Volk ohne einen Führer etwas tun? Dies ist eine sehr, sehr schwierige Aufgabe. Doch die Menschen beginnen sich zu wehren. Sie zünden jeden Tag Fahrzeuge der Wehrämter (TZK) an, welche junge Ukrainer für die Front jagen und versuchen sogar, Grenzposten zu durchbrechen. Ganze Dörfer schliessen sich zusammen, um einen Sohn, Ehemann, Bruder, Vater physisch der Polizei und dem Wehramt zu entreißen.
Die Polizei und die Wehrämter greifen sich die Männer direkt auf der Straße, sperren Bankkonten, schneiden ihnen den Zugang zu medizinischer Versorgung ab und nehmen ihnen das Recht auf Arbeit und Beschäftigung. Diese Gewalt zerstört die gesamte moralische Verfassung der Bevölkerung.
Heute – Ende August 2024 – verstehen viele Ukrainer, was vor sich geht. Aber sie sind nicht in der Lage, die Situation zu ändern. Es ist für die Menschen im Westen unmöglich zu verstehen, unter welchem psychischen und physischen Druck die Ukrainer stehen, wie die Politik des «großen westlichen Freundes» das größte Land in der Mitte Europas in ein regelrechtes Konzentrationslager verwandelt hat, in dem Männer töten müssen oder selbst getötet werden. Und wenn jemand auch nur eine Diskussion in Richtung Diplomatie, Verhandlung, Kompromiss anstößt, werden diese Menschen, selbst ältere Menschen, zum Sicherheitsdienst SBU gerufen, eingeschüchtert, inhaftiert. Die Mutigeren werden vielleicht geschlagen, verstümmelt, gefoltert, vergewaltigt und dann vor laufender Kamera gezwungen, ihre Loyalität zum Regime von Zelensky und den bewaffneten Kräften der Ukraine zu bekennen. Was hat das mit Demokratie zu tun? Das ist Faschismus im wahrsten Sinne des Wortes.
Mit den Ereignissen bei Kursk ist es klar, dass es keine Verhandlungen geben wird. Das ist das Ende. Es ist an der Zeit, dass alle begreifen, dass sich hier eine große Tragödie abspielt. Nicht nur für die Ukraine und Russland, sondern auch für Europa und die ganze Welt. Stellen Sie sich metaphorisch gesprochen eine Familie vor, in der ein Bruder verrückt geworden ist und nun der andere Bruder ihn töten muss, um den Rest der Familie zu retten.
In Anbetracht der Fakten sollte jedem klar sein, dass die heutige Ukraine wie ein Krebsgeschwür Europa und die Welt in die Katastrophe treibt. Aber die westlichen und vor allem die britischen Machthaber kümmert das nicht im Geringsten. Sie haben die Ukraine viele Jahre lang unter ihren Händen sehr erfolgreich zu dem gemacht, was sie heute ist.
Seit 2019, mit dem Machtantritt von Zelensky, ist meine Familie einen sehr schwierigen Weg gegangen. Alles hat sich verändert. Das normale Leben ist zerstört worden. Die einzige Hoffnung, die uns bleibt, ist, dass wir uns eines Tages alle unter einem friedlichen Himmel wiedersehen werden.
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