Die Pressekonferenz des russischen Präsidenten zum Wirtschaftsforum in St. Petersburg

NATO und EU gelingt es zunehmend und auffallend weniger, die politische Agenda der Welt zu bestimmen. Dabei hilft es auch nicht, „Nicht-West-Ereignisse“ im Mainstream zu verschweigen. Sie entfalten dennoch ihre Wirkung.

René Zittlau

Quelle: vedomosti.ru

Einleitung

Zeitlich beginnend mit dem St. Petersburger internationalen Wirtschaftsforum gab es eine Aufeinanderfolge von internationalen Ereignissen, das jedes für sich in seiner Wirkung zeigt, es greift eine neue Epoche der Weltgeschichte Raum. Neben dem Forum fand die NATO-Tagung in Apulien statt, gefolgt von der Schweizer „Friedenskonferenz“ ohne einen tatsächlichen Willen zu einem wahrhaften Frieden. Das zwischen NATO-Tagung und der Schweizer Konferenz bewusst platzierte Verhandlungsangebot aus Moskau legte den eigentlichen Sinn dieser westlichen Veranstaltungen für alle Welt offen.

Die westzentrierte Welt gibt es schon nicht mehr, ihre multipolaren Alternativen wie BRICS und SOZ ziehen immer mehr Staaten in ihren Bann, darunter selbst enge Verbündete der USA, wie Thailand und die Türkei sehen.   

Das St. Petersburger Wirtschaftsforum 2024 ist ein Teil dieser Entwicklung. In einer losen Artikelfolge werden wir auf dieses Ereignis zurückschauen.

Wenn Pressekonferenzen Regierungskontakte ersetzen

Am Vorabend der Eröffnung des SPIEF, des Sankt Petersburger internationalen Wirtschaftsforums, gab der russische Präsident Wladimir Putin ausgewählten Vertretern von internationalen Nachrichtagenturen eine Pressekonferenz. Die Tradition dieses Medientreffens im Zusammenhang mit dem SPIEF gibt es mit einer Unterbrechung in 2020 bereits seit dem Jahre 2014.

In Zeiten, in denen Regierungen den offiziellen Kontakt mit anderen Staaten und Regierungen schlicht verweigern, nehmen hochrangige Medientreffen einen anderen Charakter an. Sie mutieren zu halbstaatlichen Veranstaltungen, über die offizielle Botschaften in mehr oder weniger offener Form adressiert werden. 

So muss auch die Pressekonferenz des russischen Präsidenten Wladimir Putin 2024 in St. Petersburg verstanden werden. In diesem Jahr fand sie am 5. Juni spät am Abend an einem exklusiven Ort statt, im vom russischen Staatskonzern Gazprom neu erbauten „Lachta“-Zentrum, einem Business-Center mit 87 Stockwerken, das auch die Zentrale von Gazprom beherbergt.

Das Lachta-Zentrum, das neue Wahrzeichen von St. Petersburg

16 Ländern waren zu dem Treffen mit ihren jeweils führenden Nachrichtenagenturen vertreten, darunter Reuters, AP, AFP, die italienische ANSA und DPA. Die BRICS-Staaten China und Iran waren ebenso eingeladen wie die für Russland wichtigen Nachbarstaaten Weißrussland, Aserbaidschan, Usbekistan und Kasachstan. Die Berücksichtigung Japans, Südkoreas und Spaniens sind ein Hinweis auf den Stellenwert, den diese Staaten in der russischen Außenpolitik trotz der von ihnen mitgetragenen Sanktionen gegen Russland dennoch haben. Alle Teilnehmer waren hochkarätig vertreten. 

Was die Nachrichtenagenturen aus den BRICS-Staaten sowie den Nachbarstaaten Russlands betrifft, so haben sie mehr oder weniger regelmäßig die Möglichkeit, mit führenden Vertretern der russischen Politik zu sprechen, auch mit dem Präsidenten. Daher sollte das Fehlen von Vertretern der BRICS-Staaten Indien, Brasilien und Ägypten nicht überbewertet werden. In Brasilien und Indien fanden vor wenigen Tagen wichtige Wahlen statt, womit die eingeladenen Vertreter ihre Abwesenheit begründeten.

Der ägyptische Vertreter hat sich unmittelbar vor der Abreise ein Bein gebrochen, weshalb auch er absagen musste. Wie es scheint, findet die große Politik hin und wieder in den Niederungen des ganz normalen Lebens ihren Meister.

Bei dieser Konstellation überrascht es nicht, dass ein erheblicher Teil der Pressekonferenz die Antworten auf die von den westlichen Agenturen gestellten Fragen einnahmen. Und diese standen vorhersehbar fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt. Er ist der Hotspot der internationalen Politik, der alle anderen Themen beeinflusst.

Wir wollen uns hier auf diesen Teil der Fragen konzentrieren, insbesondere auf Deutschland, zumal die Pressekonferenz mit insgesamt über drei Stunden sehr lang war, was eine Behandlung aller angesprochenen Themen in einem Artikel unmöglich macht.

Russland erwartet mit einem Präsidenten Trump keine Änderung der US-Politik

Die Antwort auf die Frage nach dem Für und Wider der bei den Präsidentschaftswahlen in den USA zur Auswahl stehenden Kandidaten barg keine Überraschungen. Für Wladimir Putin ist Biden als möglicher zukünftiger Präsident vorhersagbarer. Trump hingegen war in seiner Präsidentschaft verantwortlich für eine deutliche Verschärfung des Tons zwischen den USA und Russland durch eine massive Auswertung der Sanktionen.

Der russische Präsident machte deutlich, dass er keine Änderung der Lage in der Ukraine mit einem möglichen Präsidenten Trump erwartet. Für die USA spielt die Ukraine selbst keine Rolle, die USA interessiert einzig die Größe der USA. Folglich wird sich erst etwas ändern, wenn die zukünftige US-Regierung die amerikanische Außenpolitik generell neu ausrichtet und sie einen Sinn im Aufbau normaler Beziehungen, in einem respektvollen Umgang mit allen sieht.

Wird Russland Atomwaffen einsetzen?

Die Frage nach einem möglichen Einsatz von Kernwaffen durch Russland, nach einem möglichen Auslöser für eine derartige Eskalation, schloss sich an. Wladimir Putin machte klar, dass nicht er diese Frage aufgeworfen hat. Er verwies darauf, dass es die USA waren, die als einziges Land Atomwaffen einsetzten.

Es zeigt das Politikverständnis des russischen Präsidenten, dass er mit seiner Antwort dem Westen eine diplomatische Brücke baute, über die alle Beteiligten gehen könnten. Er rief dazu auf, es nicht nur nicht zu einer Anwendung von Atomwaffen kommen zu lassen, sondern auch nicht zu einer Androhung ihrer Anwendung.

Wobei er mit einem Verweis auf die russische Nukleardoktrin keinen Zweifel daran ließ, dass im Falle von Handlungen, die die Souveränität und territoriale Integrität Russlands bedrohen, alle verfügbaren Mittel eingesetzt werden können.

Wie es zum Ukraine-Krieg kam

Es schloss sich die Frage der deutschen DPA an, die sich aus dem gegenwärtigen offensichtlichen deutschen Verständnis von Journalismus und Politik zu ergeben scheint.

Daher sei sie hier im Wortlaut zitiert:

„Bundeskanzler Scholz hat sich bereit erklärt, Waffen an die Ukraine zu liefern. Sagen Sie mir bitte, wenn Scholz seine Meinung ändert, wie würden Sie das bewerten? Und was denken Sie, was auf Deutschland zukommt? Haben Sie den Herrn Bundeskanzler in irgendeiner Weise gewarnt, ermahnt oder bedroht, als er die Entscheidung traf, Waffen an die Ukraine zu liefern?“

Es muss die Frage erlaubt sein, wer Nachrichtenchef Martin Romanczyk vorgeschlagen hat, den russischen Präsidenten nach möglichen Drohungen gegenüber dem deutschen Bundeskanzler zu fragen.

Der Fragenkomplex insgesamt gab dem russischen Präsidenten eine Steilvorlage für eine fundierte und mit Detailwissen gespickte Lektion über die Entstehung des Kriegs in der Ukraine, verbunden mit einer ebenso tiefgreifenden Analyse der deutschen innen- und außenpolitischen sowie wirtschaftlichen Gegebenheiten. Es bleibt den Lesern überlassen, die Analysen des russischen Präsidenten mit Aussagen der entsprechenden deutschen Ressortverantwortlichen zu vergleichen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.

Zunächst beantwortete der russische Präsident die Frage nach möglichen Drohungen staatsmännisch: „Wie kommen Sie darauf, dass wir jemanden bedrohen? Wir bedrohen niemanden, schon gar nicht das Oberhaupt eines anderen Staates.“ 

Um die anderen Aspekte des Fragenkomplexes zu beantworten, leitet Wladimir Putin den Ukraine-Konflikt seit 2014 her. Einleitend dazu legte er dar, dass niemand im Westen gewillt ist, sich daran zu erinnern, wie es zu dieser Tragödie kam. Sie begann mit einem von den USA unterstützten Staatsstreich. Das ist der Zeitpunkt, den der russische Präsident als den Beginn des Krieges definiert. Und für diesen Putsch, so Wladimir Putin, trägt Russland keinerlei Verantwortung.

Der russische Präsident wurde noch deutlicher. Er erinnerte ausdrücklich daran, dass die Außenminister Polens, Deutschlands und Frankreichs als Garanten ein Dokument zur friedlichen, der ukrainischen Verfassung gemäßen Beilegung der Krise unterzeichneten. Da diese Garanten nichts unternahmen, um dieses Dokument umzusetzen, tragen sie neben den USA die Schuld an dem, was geschehen ist.

Präsident Putin stellte fest, dass es erst im Anschluss daran zur Abspaltung der Krim und zum Widerstand des Donbass gegen den Staatsstreich kam.

Mit den Minsker Vereinbarungen unternahm Russland alle Anstrengungen, die Krise einzudämmen und einen Ausweg aufzuzeigen. Dazu initiierte Russland auch die Aufnahme dieser Vereinbarung in die offiziellen UNO-Dokumente. Ein Dokument, das nach den Worten sowohl der damaligen deutschen Kanzlerin Merkel als auch des französischen Präsidenten niemand die Absicht hatte umzusetzen.

Wladimir Putin wandte sich dann direkt an den Nachrichtenchef der DPA. Auch diese Passage lohnt es, im Wortlaut zu lesen:

„Sehr geehrter Herr Romanczyk, wie ist das zu verstehen? Sie haben öffentlich gesagt, dass sie die Minsker Vereinbarungen nicht einhalten werden, sondern sie nur unterschrieben haben, um die Ukraine zu bewaffnen und Bedingungen für die Fortsetzung der Feindseligkeiten zu schaffen. Wir wurden einfach an der Nase herumgeführt. Ist das nicht so? Wie sonst lässt sich erklären, was passiert ist?

Acht Jahre lang haben wir versucht, eine friedliche Lösung für dieses Problem zu finden. Acht Jahre!

Die ehemalige Bundeskanzlerin hat einmal zu mir gesagt: ´Weißt du, im Kosovo, ja, da haben wir, da hat die NATO damals ohne einen Beschluss des Sicherheitsrates gehandelt. Doch dort im Kosovo wurde acht Jahre Blut vergossen.´

Und hier, als das Blut russischer Menschen im Donbass vergossen wurde, war das kein Blut, sondern Wasser? Keiner wollte darüber nachdenken oder es zur Kenntnis nehmen.“

Im Folgenden legte der russische Präsident dar, was Anfang 2022 geschehen war. Russland erkannte nach langen acht Jahren die Donbass-Republiken entsprechend internationalen Normen an. Danach schloss es Verträge über Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand. Das alles erfolgte nach dem Regelwerk der UNO. Auch die Gewährung militärischer Hilfe entsprach dem Paragrafen 51 der UN-Charta. Wladimir Putin verwies an dieser Stelle auf UNO-Generalsekretär Guterres, der dieselbe Meinung öffentlich vertrat.

Deutsche Raketen für die Ukraine

Im Weiteren kam der russische Präsident auf die deutschen Waffenlieferungen zu sprechen. Das Erscheinen deutscher Panzer in der Ukraine war für die russische Öffentlichkeit ein Schock, da man in Russland die Beziehungen zu Deutschland als sehr gut einschätzte. Sie veränderten die Wahrnehmung Deutschlands in der russischen Gesellschaft. Wenn jetzt jedoch Deutschland wie andere NATO-Staaten die Lieferung von Raketen an die Ukraine zum Beschuss von Zielen tief im russischen Kernland freigibt, so hat das eine neue Qualität. Denn die deutschen Raketen kann die ukrainische Armee ohne direkte Beteiligung von deutschem Personal nicht bedienen. Deutschland gibt die Zielkoordinaten vor, denn die Ukraine hat nicht die entsprechende Satellitentechnik. Deutsches Personal sorgt für ihre Einprogrammierung und die Wartung der Technik. Maximal drückt ein ukrainischer Soldat den Startknopf. Gleiches gilt für die Lieferung moderner Raketen anderer NATO-Staaten.

„Das zerstört die russisch-deutschen Beziehungen endgültig.“, so das Fazit des russischen Präsidenten.

Fehlende deutsche Souveränität – ein Problem nicht nur für Deutschland

Russland versteht, dass – nach den Worten eines bekannten deutschen Politikers – die Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg niemals ein souveräner Staat war. Dieser Politiker wird namentlich nicht erwähnt, doch alle wissen, dass es sich um Wolfgang Schäuble handelt.

Es ist Wladimir Putin klar, dass die deutsche Politik gefangen ist, sowohl im transatlantischen Korsett als auch im eigenen Denken. Seine Analyse der wirtschaftlichen Situation Deutschlands benennt das Hauptproblem des Landes deutlich – fehlende preiswerte Energie. Er fragt nach der Logik, warum Deutschland Gaslieferungen aus Russland über die Ukraine und die Türkei akzeptiert, über Polen jedoch nicht. Er fragt, warum Deutschland, wenn es schon nicht die Sprengung von Nordstream aufklären will, nicht wenigstens den letzten nicht zerstörten Strang für die Versorgung öffnet.

Bei der Betrachtung der innenpolitischen Lage in Deutschland verwies der russische Präsident auf aktuelle Umfragen. Die CDU/CSU liegt bei 30 Prozent, die SPD etwa bei 16 und die AfD bei 15.

„Alle anderen sind schon abgestürzt. Das ist die Reaktion des Wählers. Das ist die Stimmung der Deutschen, die Stimmung des deutschen Volkes.“

Der russische Präsident weiter zur deutschen Innenpolitik:

„Es ist sogar seltsam, dass niemand in der heutigen deutschen Führung die deutschen Interessen verteidigt. Es ist klar – Deutschland hat nicht die volle Souveränität, aber es sind Deutsche. Deren Interessen sollten zumindest ein wenig bedacht werden.“

Schlussbemerkungen

Es ist zu spüren, dass der russische Präsident in Deutschland einen Schlüsselfaktor für eine mögliche Verbesserung der Situation in Europa sieht, weshalb er der Betrachtung der Situation im Land breiten Raum einräumte, deutlich mehr als Fragen der amerikanischen Politik. Er hofft ebenfalls auf Italien, dem er über den Vertreter der Presseagentur ANSA ausdrücklich dafür dankte, die Russophobie im Lande nicht zu befeuern.

Während des Treffens zeigte sich der russische Präsident zu jeder Frage souverän. Er benennt Fakten, klagt jedoch nicht an, verweist direkt und indirekt auf Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Situation und macht somit deutlich: Russland schlägt die Türen trotz allem nicht zu, zu niemandem. Es ist bereit mit jedem auf Augenhöhe zum gegenseitigen Vorteil zu kooperieren.

Die Pressekonferenz des russischen Präsidenten zum Wirtschaftsforum in St. Petersburg

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