Chodorkowskis Irrtümer

Der ehemalige russische Unternehmer Michail Chodorkowski sitzt in einem sibirischen Gefängnis.
Ist der Ex-Oligarch ein Opfer der korrupten russischen Justiz? So sieht er es selber, und die westlichen Medien glauben ihm. Der Fall ist komplizierter.

Peter Hänseler 

Dieser Artikel erschien erstmals in der Weltwoche
Innerster Machtzirkel: Häftling Chodorkowski.

Eben erst gab der einstige Ölmilliardär Michail Chodorkowski dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel aus seiner Zel­le in Sibirien ein langes Interview. Er kritisier­te den russischen Ministerpräsidenten Wladi­mir Putin und bezeichnete sich als Opfer einer politischen Vergeltung. Er erweckte das Bild eines ehrlichen Geschäftsmanns und eines aufrechten Dissidenten, der mit staatlichen Mafiamethoden bekämpft wird. 

Bevor wir uns den Einzelheiten zuwenden und das Selbstbild kritisch prüfen: Der Auf­stieg und der Fall Michail Chodorkowskis ereigneten sich in einer turbulenten Zeit der russischen Geschichte. Das einstige Riesen­reich stand während der achtziger und neun­ziger Jahre wirtschaftlich und politisch am Ab­grund. Das Ausmass der Krise dürfte den meisten Leuten im Westen nicht bewusst ge­wesen sein. In dieser Periode brachen neue Freiheiten auf. Sie wurden von vielen ge­braucht und missbraucht – auch von Chodor­kowski. 

Begabter Schüler 

Biografisch ist Chodorkowski wie alle Oligar­chen der ersten Stunde in der Sowjetunion ver­wurzelt. Er wurde 1963 geboren und wuchs in einem jüdischen Haushalt in Moskau in einer Zweizimmerwohnung auf. Beide Eltern wa­ren Chemiker; er galt als intelligenter Schüler und schloss mit 23 sein Studium am chemisch­technischen Mendelejew-Institut ab. Wie viele Studenten war er Mitglied des Komsomol, der Jugendorganisation der KPdSU. 

Chodorkowski allerdings war nicht nur ein­faches Mitglied, sondern er machte Karriere beim Komsomol und wurde nach dem Stu­dium stellvertretender Komsomol-Sekretär des Mendelejew-Instituts. Durch seine dortige Tätigkeit konnte er ein Netzwerk zur Macht im Sowjetapparat auf­und ausbauen. Unter diesem Schutzschirm eröffnete er auch sein erstes Geschäft – ein Café –, und ab 1987 leitete er das NTTM, ein Komsomol-Unternehmen, das dank der vom damaligen Staatschef Michail Gorbatschow lancierten Politik der Umgestaltung (Perestroika) möglich wurde. Das NTTM handelte mit Computern und Alkohol. Chodorkowski war nur noch einen Schritt vom ersten grossen Erfolg entfernt. 

Laut offiziellen Quellen betrug im Jahr 1988 der Umsatz seiner Unternehmung 10 Millio­nen Dollar. 1989 baute Chodorkowski mit dem bereits bestehenden Kapital und seinen guten Verbindungen die Menatep-Bank auf. Noch immer half ihm die schützende Hand der Po­litorganisation Komsomol, durch deren Ver­bindungen er die notwendige Banklizenz er­hielt. Die Gelder aus den Depots wurden für das Import-Export-Geschäft gebraucht. Gleichfalls dank Chodorkowskis guten Ver­bindungen zum Sowjetapparat erhielt die Menatep-Bank das Recht, Gelder zu verwal­ten, welche für die Hilfe an Tschernobyl­Opfern bereitgestellt wurden. 

Verschwundene Tschernobyl-Milliarden 

Es kursierten damals Gerüchte, dass die Cho­dorkowski-Bank für die mächtigen Russen von damals Gelder illegal ins Ausland schaffte. So seien Milliarden aus dem Tschernobyl­Fonds in einem schwarzen Loch verschwun­den. Der Erfolg der Menatep brachte Chodor­kowski immer näher an den Kreml. Bereits 1992 gehörte er zum Beraterstab des russischen Premierministers Boris Jelzin, und ein Jahr darauf wurde er stellvertretender Minister für Brennstoffe und Energie. Bis 1994 war er auch Mitglied des Rats für Industriepolitik und mit anderen Oligarchen einer der grossen finan­ziellen Unterstützer der Wiederwahl des Staatschefs. 

In dieser Phase erwarb Chodorkowski sein späteres Milliardenimperium. Der aufstre­bende Oligarch nahm 1995 an einer berühmt gewordenen Kabinettssitzung teil. Bespro­chen wurden die Privatisierung von Erdölun­ternehmen und das Verfahren, wie die Privati­sierung abzuwickeln sei. Im Zuge dieser Vorgänge gelang es Chodorkowski in mehre­ren Schritten, dank seinen Firmen Menatep und Rosprom, die Aktienmehrheit an dem maroden, von allen Investoren gemiedenen staatlichen Erdölkonzern Yukos weit unter Marktwert zu erwerben. Bereits 1999 stieg der Jungmagnat dann zum einflussreichen Poli­tikmitgestalter auf, indem er die liberale Partei Jabloko finanziell unterstützte. Geschäftlich orientierte er sich verstärkt Richtung Amerika – es fanden Gespräche mit den Ölriesen Exxon Mobil und Chevron Texaco statt. 

Pakt mit Putin 

Als Zäsur sollte sich für Chodorkowski die Jahrtausendwende erweisen. Nach dem zuse­hends als korrupt, alkoholisiert und inkom­petent bewerteten Jelzin-Regime wurde der frühere Geheimdienstmann Wladimir Putin zum russischen Präsidenten gewählt. Der neue starke Mann im Kreml rief kurz darauf die mächtigsten Oligarchen des Landes zu sich, darunter auch Chodorkowski. Putin teilte den Mächtigen sinngemäss Folgendes mit: «Ihr lasst die Finger von der Politik, und dann schaue ich nicht nach, wie ihr eure Riesenbe­teiligungen zusammengerafft habt.» Den An­wesenden muss bewusst gewesen sein, dass sie in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten, würde der Kreml seine Drohung wahrmachen und rückwirkende Untersuchungen anstellen. 

Zwei der sich Putin widersetzenden Oligar­chen – Boris Beresowski und Wladimir Gu­sinski – verliessen Russland unverzüglich. Chodorkowski war zu jener Zeit der reichste Mann im Land und hatte keine Angst. Seine po­litischen Ambitionen lebte er ungehindert wei­ter aus, finanzierte Duma-Abgeordnete und hielt sich nicht zurück mit öffentlicher Kritik an Putin und der Politik des Kremls. Das blieb nicht ohne Folgen. Im Oktober 2003 wurde Chodorkowski verhaftet. Der Katalog der Vor­würfe reichte von Privatisierungsbetrug über Exportbetrug bis zu Steuerdelikten. Noch 2003 wurde er ins Gefängnis geworfen. Ein neuer Prozess gegen ihn ist derzeit im Gange. 

Wie ist nun die Rolle Chodorkowskis vor dem hier gezeigten Faktenhintergrund zu be­urteilen? Ist er Opfer oder Täter? Rücksichts­loser Wirtschaftskrimineller oder Märtyrer? 

Chodorkowski hatte durch seine Herkunft keine geschäftlichen oder politischen Verbin­dungen. Daher wählte er als ersten Karriere­schritt bewusst den Komsomol. Beitreten muss­te man, aber Chodorkowski nutzte diese Zwangskörperschaft für die Verfolgung seiner Ziele sehr geschickt. Für ihn war der Komsomol ein Instrument, um das System auszutricksen. Er wählte von Anfang an den politischen Weg, um sich Vorteile im Geschäft zu verschaffen. Ganz anders etwa ging Roman Abramowitsch vor, der russische Multimilliardär, der heute in England lebt. Über ihn kursieren Gerüchte, wo­nach er mit gestohlenem Benzin gehandelt und so den Grundstein für sein Vermögen gelegt ha­be – auch hier wurde das fragile russische Sys­tem für eigene Zwecke missbraucht. 

Chodorkowski gehörte bei der politischen Vorbereitung der Privatisierung zum inners­ten Machtzirkel. Die politische Führung Russlands war mit der Aufgabe allerdings überfordert. Die Männer aus der Wirtschaft, die zur Unterstützung beigezogen wurden, nutzten diese Schwächen ohne Rücksicht aus. Dass auch die beteiligten Politiker kräftig mit­verdienten, ist hier nicht das Thema. Schritt­weise gelang es Chodorkowski, die Kontrolle über Yukos zu erlangen. Mit Unternehmer­tum nach unseren Begriffen hatte die Über­nahme nichts zu tun. Man stelle sich einmal vor, die Eidgenossenschaft würde das Natio­nalstrassennetz privatisieren und einer der reichsten Bürger der Schweiz wäre Mitglied der entsprechenden Kommission. Die Privati­sierung würde dann einer Bank, welche von ebendieser Person kontrolliert würde, über­tragen. Den Zuschlag erhielte schliesslich die Muttergesellschaft dieser Bank zu einem Preis, der achtzig Prozent unter dem Marktwert lä­ge. Unterlegene Mitbieter, die das Verfahren als «Verrat» betitelten, würden mundtot ge­macht. Genau so ging Chodorkowski vor. Wie andere Oligarchen segelte er hart am Wind. 

Wie ist die Rolle Putins in dieser Sache zu beurteilen und insbesondere der Umstand, dass Putin lediglich Chodorkowski zerstörte, die anderen jedoch weiter gewähren liess? Pu­tins Vorschlag – wirtschaftliche Macht ja, po­litischer Einfluss nein – war pragmatisch und sehr wahrscheinlich zu jener Zeit das beste Mittel, um die Oligarchen wenigstens ihrer beträchtlichen Einflussnahme auf die Politik zu berauben, ohne das ganze Wirtschaftssys­tem zu gefährden. Hätte Putin diese Vorkeh­rung nicht getroffen, hätte die Verfilzung von Macht und Geld das Land in den Ruin treiben können. 

Chodorkowski bricht den Deal 

Das Einvernehmen mit den Oligarchen war zu dieser Zeit wohl die einzige praktikable Vari­ante, die Geld und Macht trennte, ohne das Riesenreich einem grossen Risiko des Schei­terns auszusetzen: Die Vereinbarung war für Putin ein politischer Vertrag und somit auch die (moralische) Rechtsgrundlage, um nach der Verletzung dieses Vertrages gegen Chodor­kowski entschlossen vorzugehen. Die vorge­brachten Klagen hatten zwar nicht diese Vereinbarung als Grundlage, denn die Verein­barung war nicht geschriebenes Recht. Für den Kreml war sie jedoch gültig, obschon lega­listisch Steuer­und andere Vergehen vorge­bracht wurden. 

Betrachtet man den Prozess gegen Chodor­kowski unter diesem Aspekt, so erscheint das Verhalten des Kremls als rechtsstaatlich kor­rekt – die Vereinbarung wurde durch Chodor­kowski verletzt, und damit hatte er sein Recht, Yukos zu behalten, verspielt. Gewiss: Das rus­sische System funktioniert nicht nach westli­chen Vorstellungen, aber es hat durchaus sei­ne Regeln. Das Argument, Chodorkowski sei sich des Risikos nicht bewusst gewesen, ist etwa so plausibel wie die Behauptung, ein 

Finger weg von der Politik! Ex-Präsident Putin.

Löwe habe keine Ahnung von der Verletzungs­gefahr, wenn er ein Rhinozeros angreife. Die Rechtsgrundlage der Entmachtung Chodor­kowskis war eine Vereinbarung unter mäch­tigen Herren – eine Art Gentlemen’s Agree­ment –, die vom machtgewissen Oligarchen gebrochen wurde. 

Auch im Westen würde er verurteilt 

Womit man sich die Frage nach der Rechts­staatlichkeit im engern Sinne stellen muss. Sind die legalistischen Vorwürfe, die der rus­sische Staat gegen Chodorkowski vorbrachte, gerechtfertigt oder fabriziert? Wurde er mit ungerechtfertigten Straf-, Zoll­und Steuer­ansprüchen zugedeckt? Das ist nicht so. Zu­nächst: Der Yukos-Erwerb war zweifelhaft. Vor allem aber betrieb Chodorkowski inner­halb seines Imperiums sogenanntes Transfer­Pricing. 

Diese Methode wurde selbst in der konser­vativen Stanford Law Review detailliert und kri­tisch beschrieben: Chodorkowski blutete Tochterfirmen von Yukos dadurch aus, dass diese ohne jeden Gewinn Güter an die Hol­dingstrukturen verkauften. Damit erreichte er, dass in den russischen Firmen praktisch kein Gewinn anfiel, sondern nur in steuerbe­freiten Offshore-Gesellschaften der Holding. Viele dieser Gesellschaften hatten überdies auch Minderheitsaktionäre, welche durch die Gewinnverschiebung um Dividenden ge­bracht und somit betrogen wurden. In der Konsequenz wurden Ausführungs­und Zoll­bestimmungen verletzt. Allein aufgrund seiner Transfer-Pricing-Tricks hätte Chodor­kowski auch in den meisten westlichen Rechts­staaten zwangsläufig verurteilt und ins Ge­fängnis geschickt werden müssen. 

Chodorkowskis Glaube, als reichster Russe für den Kreml unantastbar zu sein, erwies sich als fataler Fehler. Ihn als Opfer darzustellen, das als sauberer Geschäftsmann in die Mühlen einer korrupten Justiz geriet, ist irrig. Chodor­kowskis Ziel war Geld und Macht. Durch die Art, wie er seine Pläne verfolgte, machte er sich angreifbar. Das Geld wollte ihm Putin ur­sprünglich lassen, die Macht nicht. Wie wird es weitergehen? Russland tickt auch hier etwas anders. Bleibt Putins Popularität hoch, ist Cho­dorkowski ein Verbrecher. Sinkt Putin in der Gunst der Bürger, könnte Chodorkowski zum Märtyrer werden. Noch sind die Russen nicht der Meinung, dass mit Chodorkowski ein Op­fer in Sibirien schmachte. Der Verfasser dieser Zeilen, der mit sehr vielen Russen spricht, hat bis jetzt noch keinen gefunden, der so denkt. 

Chodorkowskis Irrtümer

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