Zeichen der Zeit – Geschichte als Lehrmeister
Ist es möglich, aus der Geschichte zu lernen? – Seien wir ehrlich – die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm. Und dabei ist es egal, aus welcher politischen Perspektive die Ereignisse betrachtet werden, die die Welt nicht zur Ruhe kommen lassen.
René Zittlau

Dieser Artikel wurde erstveröffentlicht bei «www.globalbridge.ch«. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung auf unserem Blog.
Einleitung
Seien wir ehrlich – die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm. Und dabei ist es egal, aus welcher politischen Perspektive die Ereignisse betrachtet werden, die die Welt nicht zur Ruhe kommen lassen.
Ukraine-Konflikt. Israels politischer und somit in der Perspektive staatlicher Selbstmord durch immer mehr Krieg gegen seine Nachbarländer. Möglich nur dank der Unterstützung von AIPAC in den USA, der amerikanischen und nicht zuletzt auch der deutschen Regierung. Der militärische Egotrip der USA gemeinsam mit Großbritannien im Nahen Osten gegen den Jemen und das Bestreben seiner Ausweitung auf den Iran. Das permanente Anheizen der Möglichkeit militärischer Auseinandersetzungen rund um Taiwan und China ebenfalls durch die USA mit „freundlicher“ Unterstützung eines Landes, das schon seit Jahrhunderten seine Interessen durch Intrigen und Krieg meint vertreten und durchsetzen zu dürfen, dabei seinen Zenit schon vor über einhundert Jahren überschritt und weder wirtschaftlich noch militärisch seine eigene Hybris zu unterfüttern oder zu erkennen in der Lage ist, nämlich Großbritannien.
Diesem Trio infernale der Weltpolitik möchte Frankreich ebenfalls nicht nachstehen, auch wenn der Verlust an ökonomischer, wirtschaftlicher und politischer Macht nicht nur in Afrika schwer mit dem nationalen Selbstbild der Grande Nation und schon gar nicht mit dem Ego seines Präsidenten in Übereinstimmung zu bringen ist.
Nicht zuletzt deutscher Größenwahn feiert unter Kanzler Merz gekoppelt an eine Wiederauferstehung aggressiven militaristischen Gedankenguts in den Parlamenten und Regierungen dieses Landes und einer seit dem Ende des letzten Weltkriegs nicht gekannten Aufrüstungsorgie durch nichts zu rechtfertigende Urständ.
Ein Blick zurück
Es riecht also wieder nach einem großen Krieg. Und die Parallelen zur Entstehung der Kriege, aus denen der Westen nach eigener Darstellung alle nötigen Schlüsse gezogen hat, sind real und sehr bedenklich.
Vor etwas mehr als 100 Jahren waren sich die damaligen europäischen Großmächte eine wie die andere sicher, dass die kumulierten Widersprüche zwischen ihnen in einer kurzen militärischen Auseinandersetzung siegreich zu lösen sind und man Weihnachten wieder zu Hause sein und bei Gänsebraten mit Klößen und Rotkohl oder auf der anderen Seite Truthahn gefüllt mit Maronen beziehungsweise Trockenobst die eigenen Heldentaten wird feiern können.
An diesen Irrsinn glaubte man in Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland gleichermaßen. Und alle diese Mächte trugen auf ihre Art zum Ausbruch des Krieges bei.
Versuchen wir also, die Realitäten dieser lange vergangenen Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts in Europa in Erinnerung zu rufen. Henri Barbusse verarbeitete in seinem Roman „Das Feuer“ die eigenen Traumata dieses ersten weltumspannenden Schlachtens. Er, der sich im August 1914 als Vierzigjähriger freiwillig zur Infanterie meldete, beendete im Dezember 1915 dieses überhaupt erste Antikriegsbuch über den 1. Weltkrieg, das sich mit dem realen Sein im Krieg aus Sicht eines einfachen Soldaten auseinandersetzt. Es sei insbesondere Parlaments- und Regierungsmitgliedern – vor allem auch den Wehrdienstverweigerern unter den Aufrüstung-ohne-Limit-fordernden Ministern und Parlamentariern – sowie Kriegslobbyisten wie einer Frau Strack-Zimmermann dringend zur Horizonterweiterung empfohlen.
Die drei Weltkriege
Die heutige weltpolitische Lage erinnert an Brecht:
„Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr zu finden.“
Bertolt Brecht
Mit „Hurra!“ in den ersten Weltkrieg
Die Jahre vor dem ersten Weltkrieg waren von einer ständigen Steigerung der Kriegshysterie geprägt. Die Glorifizierung von Militär und Waffen erlebte ein nie gekanntes Ausmaß.

Alle Mächte fühlten sich stark und im Recht und warteten nur auf die passende Gelegenheit, um loszuschlagen. Vergessen die Haager Friedenskonferenz, die 1899 und 1907 auf Anregung des russischen Zaren Nikolaus II. in den Haag tagte und erstmals über grundsätzliche Fragen der Abrüstung und der friedlichen Regelung internationaler Konflikte beriet. Nur sieben Jahre später gaben alle dem Krieg den Vorrang vor der Diplomatie. Es gab allseits nur den Sieg als Strategie und Endziel. Diplomatie beziehungsweise einen Plan B gab es nicht.
Die Machtverhältnisse am Ende des ersten Weltkriegs widerspiegelten sich in den wichtigsten Nachkriegsverträgen: Dem Vertrag von Trianon sowie dem bekannteren Versailler Vertrag, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie belegen auf ihre Weise das damalige Verständnis von Geschichte und Politik. Und so nutzten die USA, Frankreich und vor allem Großbritannien den geschichtlichen Moment nicht zur Klärung der tiefsitzenden Ursachen des ersten weltumspannenden Krieges der Geschichte. Ihr Ziel war die Konsolidierung der eigenen Position sowie die Gewinnmaximierung durch Ausschalten mächtiger Konkurrenten: Deutschland wurde gezwungen, die Alleinschuld am Krieg anzuerkennen, was den Weg für Reparationszahlungen frei machte. Die Habsburger Monarchie und das Osmanische Reich gingen unter.
Bis heute gibt es zur Schuldfrage des ersten Weltkriegs keinen wissenschaftlichen Konsens.

Der Weg in den zweiten Weltkrieg
Die vertraglich insbesondere Deutschland und territorial vor allem Österreich-Ungarn aufgezwungenen Demütigungen in Politik und Wirtschaft waren so brutal, dass Deutschland politisch nicht zur Ruhe kam. Die Errichtung der Nazi-Herrschaft in Deutschland Anfang der 30-er Jahre war in Vielem eine Folge des Versailler Vertragswerks.
Der Völkerbund, geschaffen nach dem ersten Weltkrieg als internationale Organisationen zur Klärung zwischenstaatlicher Streitigkeiten und zur Verhinderung eines neuen Krieges war nur zum Teil in der Lage, Lösungen für die bestehenden Probleme zu finden. Die Gründe sind vor allem in der starren Verquickung mit dem Versailler Vertrag zu finden. Mit dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs verlor der Völkerbund endgültig seine Legitimität.
Galt der erste Weltkrieg als der bis dahin furchtbarste, so ließen sich die Verheerungen des zweiten weltweiten Krieges nicht mehr in angemessene Worte fassen. Die Technologien zur Vernichtung des Gegners erreichten eine unglaubliche Beschleunigung und machten vor nichts Halt: weder vor den ersten biologischen Waffen noch vor der ersten Atombombe und auch nicht vor der in Ausmaß und Umfang ebenfalls erstmalig in dieser Form praktizierten, gezielten systematischen Vernichtung der Zivilbevölkerung.
Wie schon 25 Jahre zuvor war auch dieser neue Krieg dem Versagen der Diplomatie geschuldet. War 1914 der auf allen Seiten grassierende Größenwahn die treibende Kraft, so spielte vor dem zweiten Weltkrieg der gezielte Missbrauch der Diplomatie eine große Rolle. Neben Deutschland taten sich hier besonders Frankreich und Großbritannien hervor, die trotz geltender Verträge ihren Bündnisverpflichtungen gegenüber der Tschechoslowakei und Polen, aber auch Finnland, bewusst nicht nachkamen. Gegenüber der Sowjetunion weigerten sie sich hingegen, einen Beistandsvertrag abzuschließen. Geradezu eine unausgesprochene Einladung an Hitlerdeutschland zu einem Krieg Richtung Osten.
Der Missbrauch und in Folge die Zerstörung der Nachkriegsordnung als Keim eines dritten Weltkriegs?
Die Verträge von Teheran, Jalta und Potsdam zwischen den dann doch Alliierten USA, Großbritannien und Sowjetunion legten den Grundstein für die politische Neuordnung der Welt nach dem Ende des zweiten Weltkrieges.
Auch die Gründung der UNO sowie ihre vielen Unterorganisationen geht auf das gemeinsame Wirken der Alliierten mit dem Ziel der Schaffung einer tragfähigen internationalen Ordnung zur Erhaltung von Frieden und Stabilität zurück.
Allerdings konnten die Beschlüsse von Potsdam in der Rückschau nicht die Wirkung entfalten, die möglich gewesen wäre. Denn den Westalliierten USA und Großbritannien – in deren Kreis auch Frankreich aufgenommen wurde – ging es durch die Art der Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen vor allem um die Durchsetzung der eigenen politischen Ziele.
Die Einführung der D-Mark in den drei westlichen Besatzungszonen war z.B. ein offensichtlicher Bruch der Vereinbarungen von Potsdam, die den Erhalt eines einheitlichen deutschen Wirtschaftsraums verlangten. Damit wurden die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die dann 1949 erfolgte Gründung eines westdeutschen Staates geschaffen, was weitreichende Auswirkungen auf das Nachkriegseuropa hatte.
Die Gründung der NATO und die ausgerechnet am 9. Mai 1955 vollzogene Aufnahme der BRD folgt diesem Muster.
Über die Jahrzehnte erfolgte eine schrittweise Unterminierung fast aller der im Ergebnis des zweiten Weltkriegs geschaffenen internationalen Organisationen durch die westlichen Staaten. Heute sind diese Organisationen der jeweils verlängerte Arm der Politik von USA, EU und NATO. Das Handeln von OSZE, internationalen Sportorganisationen, IWF, Weltbank, Europarat, UNESCO, WHO und wie sie alle heißen, lässt inzwischen jedwede Selbständigkeit und Unabhängigkeit vermissen. Sie wurden durch eine gezielte Einflussnahme insbesondere der USA zu Instrumenten der westlichen Politik, ja geradezu zu einer Waffe.
Eine Beruhigung der internationalen Beziehungen durch eine umfassende, gleichberechtigte Zusammenarbeit auf den verschiedensten Gebieten – es war einmal. Es scheint eher, als ob die Welt sich zurückentwickelt.
Deutschland 2025
Vor achtzig Jahren endete der letzte Weltkrieg. Von dem damaligen „Nie wieder!“, den Versprechen und Schwüren ist nicht mehr viel geblieben. Die Generation der Kriegsteilnehmer gibt es so gut wie nicht mehr, ebenso die Opfer des Krieges. Beide Gruppen haben nur noch einen sehr bedingten, auf die hinterlassenen Zeugnisse ihres Wirkens begrenzten Einfluss. Es fehlt die Unmittelbarkeit des persönlichen Erlebens auf die Politiker. Hört man den Letztgenannten zu, erschreckt man ob ihres Unwissens, ja ihrer geistigen Armut.
Was bleibt also? Es sollte das Wissen um die Komplexität von Geschichte sein, der eigenen und die der anderen. Schon Wilhelm von Humboldt sagte: „Wer die eigene Geschichte nicht kennt, hat auch keine Zukunft.“
Angesichts des heutigen, geschichtsvergessenen Zustandes der Politik nicht nur in Deutschland sondern in der gesamten EU, ja in ganz Westeuropa, erscheint es geradezu bizarr, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl am 1. Juni 1995 eine verbale Anleihe bei Humboldt nahm, als er im Bundestag sagte:
„Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“
Helmut Kohl am 1. Juni 1995
Von derartigen Einsichten sind Parlament, Regierung und Präsident der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2025 unendlich weit entfernt. Wie weit, das zeigen die Reden zweier Bundespräsidenten zu demselben Anlass.
Zehn Jahre vor der obigen Rede Helmut Kohls hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag des Endes der Zweiten Weltkrieges in Europa im Deutschen Bundestag eine Rede. Diese Rede Richard von Weizsäckers gilt als eine seiner eindrucksvollsten, ausgewogensten, politisch wichtigsten.
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