9. Mai 2025: Wir verneigen uns vor dem russischen Volk – die Geschichte eines Helden
Die Enkelin unseres Helden, Iwan Nikolajew, der seine persönlichen Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg niederschrieb, ist Leserin von Voice from Russia und hat unserem René Zittlau diesen Bericht auf Russisch überlassen. René Zittlau hat ihn auf Deutsch und Maria Avilova auf Englisch übersetzt.
René Zittlau

Einleitung von René Zittlau
Auf Deutsch wurden diese Kriegserfahrungen bereits von GlobalBridge veröffentlicht. Der Autor dieses Berichts ist Iwan Nikolajew. Er wurde am 26. Februar 1907 im Oblast Rostow geboren und starb am 6. Oktober 1988 in Samara. Er erlebte während des Zweiten Weltkriegs eine Odysee, welche schwer zu beschreiben ist, doch ihm ist dies gelungen. Unter anderem führte sie ihn auch als Gefangener ins Konzentrationslager Mauthausen.
Dieser Beitrag ist bei Weitem der längste, aber auch der beeindruckenste, den wir je publiziert haben.

Heute jährt sich zum 80. Mal der Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus. Ja, auch wenn von der Politik und den Medien alle Register der Manipulation gezogen werden: Wir wurden befreit von einer Last, von der wir uns nicht selbst zu befreien vermochten.
Die Stimmungslage in den einflussreichen Medien und insbesondere in der Politik erinnert jedoch eher an den Juni und Juli 1914 oder die Sommermonate des Jahres 1939, in denen die Massen auf jede erdenkliche Weise auf die Unvermeidlichkeit eines Krieges konditioniert wurden.
Ist auch jetzt wieder Vorkriegszeit?
«Wir verneigen uns vor dem russischen Volk.»
Anfang des Jahres 2025 erreichte mich aus Russland der vorliegende Text, ein bisher nirgends veröffentlichtes Manuskript. Der Autor war mir völlig unbekannt. Ein Begleitbrief ließ mich aber wissen, dass es sich bei dem Text um einen Ausschni] aus einem kleinen Buch handelt, in dem der Autor – der Großvater der Absenderin – rückblickend auf sein Leben Zeugnis über die Kriegsjahre vor sich selbst, seinen Nächsten und zugleich vor der Welt ablegt.
Im Juni 1941 eingezogen kehrte der Autor erst im Laufe des Jahres 1946 wieder zu seiner Frau und seinen Kindern zurück. In all der Zeit wusste die Familie nichts von seinem Verbleib.
Sein Leidensweg durch halb Europa beschreibt die unendlichen und systematischen Grausamkeiten, die ihm von Wehrmacht, SS, Gestapo angetan wurden und somit das, was das System des deutschen Faschismus und Nationalsozialismus für jene bedeutete, auf die es sich gierig stürzte.
Seine ruhigen, klaren Worte sind trotz allem zugleich eine Ode an das Leben.
Möge das Schicksal von Iwan Nikolajew Erinnerung und Mahnung in einem sein. Wir verneigen uns vor dem russischen Volk.
Und so beginnt der Rückblick …
Wenn sie in den Ruhestand gehen, schreiben Staatsmänner und Politiker ihre Memoiren, damit diejenigen, die sie lesen, von ihren Irrtümern überzeugt werden. Es gibt nichts Falscheres als ein Geständnis vor der ganzen Nation. Die einfacheren Leute haben keine Gelegenheit, ihr Geständnis zu vervielfältigen, und schreiben deshalb keine Memoiren. Doch wenn schon jemand diese undankbare Arbeit auf sich nimmt, dann macht er das nur für sich selbst, neugierig darauf, wie seine Gedanken auf dem Papier aussehen werden, die jetzt niemandem mehr nützen
Vom Schicksal zur Einsamkeit verdammt, ohne einen engen Freund, verspürt der Mensch im Alter ein gewisses körperliches Bedürfnis, mit sich selbst zu sprechen. Dieses Gespräch möchte ich in diesem Notizbuch festhalten.
Das, was wir heute tun, wird morgen zu gestern, und nur die Erinnerung verfolgt uns durch die Zeit. Das Gedächtnis ist unbarmherzig. Die angenehmen Dinge, an die wir uns gerne immer erinnern würden, verblassen wie ein Traum. Aber das Schlimmste, das Schwerste, das man ertragen musste, bleibt für immer in dir …
Acht Jahre nach dem Krieg
Einige Monate nach Stalins Tod erhielt ich die Aufforderung, mich beim Einberufungsbüro der Armee zu melden. Dort wartete man bereits auf mich. Ich wurde aufgefordert, in den hinteren Teil des Hofes zu gehen, wo ein «Wolga» stand. Ich begriff, dass sie mich verhaftet hatten. In dem Büro, in das sie mich führten, saß ein Mann mittleren Alters in Zivil an einem Schreibtisch und etwas weiter auf einem Sofa saß ein Mann in den Sechzigern in Militäruniform. Der erste wies sich mir aus: Michailow, Ministerium für Staatssicherheit (MGB), Ermittler. Aus einer voluminösen Aktentasche holte er zwei dicke Ordner mit gehefteten Papieren heraus, bewaffnete sich mit einem leeren Blatt Papier und einem Füllfederhalter.
– Wie lautet Ihr Nachname, Vorname und Vatersname?
Ich sagte es ihm.
– Und wie war Ihr Familienname früher?
– Derselbe. Ich habe Den Familiennamen nie geändert.
– Und Nikolajewskij hießen Sie nie?
Hier erinnerte ich mich, dass ich ihn schon einmal im Korridor des Bauunternehmens gesehen hatte, in dem ich arbeitete.
– Ich habe schon vorher von Ihrer Institution keine hohe Meinung. Jetzt sehe ich, dass Sie noch schlimmer sind.
Michailow lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schrie fast:
– Sie vergessen, wo Sie sind.
Noch im Wagen, als ich abgeführt wurde, dachte ich, dass man mich einschüchtern würde, dass man versuchen würde, in mir Schwäche und Feigheit zu wecken. Ich beschloss, meine Vermutung zu überprüfen.
– Nein, das vergesse ich nicht. Aber Ihnen steht es nicht zu, Ihre Stimme gegenüber einem Mann zu erheben, der einige Jahren in der Umarmung des Todes gelebt hat. Wenn ich hier zusammenbreche, können Sie mich nicht mehr aufrichten. Und Sie werden in Schwierigkeiten geraten. Außerdem, was können Sie mit mir schon antun? Ins Gefängnis stecken? Nun, das ist alles, was ich will. Aber dann verlange ich von Ihnen, dass Sie mir mindestens zehn Jahre garantieren. Auf eine kürzere Strafe lass ich mich nicht ein.
– Gut. Wir werden Ihre Bitte berücksichtigen, lächelte Michailow schief.
– Danke.
– Also, kommen wir zum Wesentlichen. Was habe ich Sie gefragt?
– Sie sagten Nikolajewskij, fahre ich fort. Die Sache ist die, dass ich, als ich 1946 in Kuibyschew (Samara) ankam, sofort in der Buchhaltungsabteilung des 11. Baubetriebs anfing zu arbeiten. Dort arbeitete auch ein siebzehnjähriges Mädchen, Ljuba Worobjewa. In den acht Jahren, die ich dort arbeitete, fiel mir nichts Besonderes an Ljuba auf. Ein temperamentvolles, etwas einfältiges Mädchen, das war’s. Aber in letzter Zeit hat sie sich plötzlich total verändert. Sie ist irgendwie sehr konzentriert geworden, sehr aufmerksam mir gegenüber. Sie folgt mir wie ein Schatten. Wenn ich mit jemandem spreche, hört sie mit offenem Mund zu. In meiner Abwesenheit wühlt sie in den Papieren auf meinem Schreibtisch. Dasselbe Schicksal ereilt die Innenseite meiner Jacke, wenn ich sie an der Stuhllehne hängen lasse. Es macht ihr übrigens nichts aus, dass andere Mitarbeiter sie dabei erwischen könnten.
Mir wurde klar, dass man mich gefunden hatte, aber noch nicht festnehmen wollte. Und Ljuba wurde benutzt, um mich im Auge zu behalten. Also beschloss ich, eine Komödie zu spielen. Einmal sagte ich in einem Gespräch mit ihr, im Leben Dinge passiert alles Mögliche. Zum Beispiel hatte ich früher den Nachnamen Nikolajewskij…. Nach diesem Gespräch kramte Ljuba einige Zeit lang in ihrer Schreibtischschublade. Nachdem sie das Büro verlassen hatte, schaute ich hinein und sah, dass auf dem Papier unter dem Puder und dem Make-up mit Bleistift „Nikolajewskij“ stand.
Michailow und sein älterer Genosse wechselten einen Blick. Ich fuhr fort.
– Es versteht sich von selbst, dass Ljuba Worobjewa Ihre Strafe nicht verdient hat. Sie hat Ihren Auftrag so gut wie möglich ausgeführt. Aber was denken Sie sich dabei, solch untalentierte Leute einzusetzen? Könnte es sein, dass nach diesem schrecklichen Krieg anständige Menschen sich weigern, Ihnen zu helfen, vor allem, wenn es um den Kampf gegen den Feind geht?
Sie schwiegen. Dann fragte der Ältere und deutete auf Michailow.
– Und wie haben Sie herausgefunden, wer er ist?
– Als Ljuba mir durch ihr Verhalten zu verstehen gab, dass ich beobachtet werde, dachte ich, dass ihr unmittelbarer Vorgesetzter mich auch beobachten will. Eines Tages sah ich ihn auf dem Korridor, erkannte ihn an seinen Augen. Ich ging auf ihn zu und sagte: „Diese Angelegenheit, wegen der Sie gekommen sind, muss jetzt zu Ende gebracht werden.“
– Was meinen Sie mit „an seinen Augen“?
– Es ist so. Eure jungen Tschekisten können den Leuten nicht in die Augen sehen. Es ist, als würden sie durch sie hindurchschießen. So ein Blick schmerzt mich hier im Hinterkopf. Am liebsten würde ich zu einer solchen Person auf der Straße gehen und eine Bemerkung machen.
– Nun ja …. Man merkt, Sie haben viel Erfahrung.
– Sie brauchen nicht zu lachen. Wenn ich die Erfahrung gehabt hätte, wäre ich nicht dort gewesen …, wo ich war.
Der ältere Mann nahm sich eine Zigarette und begann zu rauchen. Michailow nahm das Verhör wieder auf.
– Also gut. Erzählen Sie.
– Was soll ich erzählen?
– Erzählen Sie uns von sich, seit vom Moment des Kriegsbeginns.
– Wie erzählen? Ich kann in einer Stunde alles erzählen, ich kann es auch in einem Monat.
– Kurz und bündig. Wenn nötig, fragen wir nach Details.
Die Zeit vor dem Krieg
Jetzt, in der Zeit des neunten Fünfjahresplans (1971-1975, Anm. des Übersetzers), ist es für einen jungen Menschen schwer, sich die Vorkriegszeit vorzustellen, die Zeit des Personenkults um Stalin, die Zeit des Generalverdachts und der Angst, die Menschen denunzierten sich gegenseitig, hatten Angst vor den Mauern, hatten Angst vor sich selbst. Man wurde zur GPU (Politische Abteilung des NKWD) vorgeladen und gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, in der man sich verpflichtete, schriftlich zu berichten, was man gesehen und gehört hatte. Im Falle einer Weigerung bekam man den Stempel eines «Feindes des Sowjetsystems» aufgedrückt. Es stimmt, auch ohne Unterschrift verlangten sie alle möglichen Informationen über Nachbarn und Kollegen. Ein unbedacht geäußertes Wort konnte durchaus der Grund für die Verhaftung einer Person sein. Dann wurde die verhaftete Person unter Anwendung von Folter verhört. Kein Familienmitglied durfte die verhaftete Person besuchen oder Nachrichten von ihr erhalten. Verurteilte, Verbannte oder Erschossene verschwanden gleichsam aus der Welt der Lebenden. Keiner der Angehörigen wusste, was mit dem „Repressierten“ geschehen war und ob er überhaupt noch lebte. Im Laufe mehrerer tragischer Jahre kamen viele Tausende führende sowjetische Politiker im Gewahrsam des NKWD (damals GPU) um. Insbesondere der Führungsstab der Armee. Der „Große Führer aller Zeiten und Völker“ Stalin konnte triumphieren. Er löschte alle aus, die ihm auch nur ein kleines bisschen als Rivalen in der politischen Führung der Partei und des Landes erschienen. Alle Massenmedien wurden in den Dienst des „Großen Führers“ gestellt. In dieser Zeit griffen Hitlers Horden unser Land an. Und „Generalissimus“ Stalin nahm die Verteidigung selbst in die Hand.
Wie sich später herausstellte, haben die Dienste Hitlers und des japanischen Militärs hart an der Erfindung von Unwahrheiten gearbeitet, um die bedeutendsten Militärkommandeure in den Augen Stalins zu kompromittieren. Das „Genie“ Stalin erwies sich dafür als fruchtbarer Boden. Tausende großartiger Söhne des Vaterlandes wurden später posthum rehabilitiert: die Marschälle und Generäle Blücher, Eidemann, Tuchatschewski, viele Weggefährten von Lenin ….
In diesen Jahren der Massaker wurden in jeder Stadt und in jeder Siedlung große und kleine Denkmäler für den „Führer und Lehrer“ errichtet. Am Ufer der Wolga, am Beginn des Wolga-Don-Kanals, wurde ein Denkmal errichtet, das über Dutzende von Kilometern sichtbar war. Nach Chruschtschows Zeugnis unterzeichnete Stalin selbst den Befehl, dreißig Tonnen des damals so knappen Kupfers für diesen Zweck freizugeben.
Nach seinem Tod wurde Stalins Leiche einbalsamiert und im Mausoleum neben Lenin beigesetzt.
Bald jedoch begann eine ernsthafte Untersuchung der unter Stalin begangenen Taten. Stalins Henker, Staatssicherheitsminister Beria, wurde verhaftet und dann als Agent des britischen Geheimdienstes erschossen. Aber diejenigen, die all die Jahre in der GPU ihr Unwesen getrieben hatten, blieben entweder in ihren Ämtern oder wurden auf andere Posten in Wirtschafts- oder Parteiorganen versetzt.
Nach dem Tod Stalins erinnerte man sich an die Verfassung, die Strafprozessordnung, an Gerichte und Juristen. Nach und nach begann man, die Ordnung wiederherzustellen und die Ermittlungsverfahren zu überprüfen. Diejenigen, die noch im Gefängnis und in der Verbannung lebten, wurden nach Hause entlassen, aus dem Strafregister gestrichen, am alten Arbeitsplatz für all die Jahre der Inhaftierung entlohnt und wieder in die Partei aufgenommen.
Die einbalsamierte Leiche Stalins wurde aus dem Mausoleum entfernt und in der Nähe der Kremlmauer beigesetzt, um damit zu unterstreichen, dass nicht alles an ihm tragisch für das russische Volk war. Alle seine Denkmäler wurden zerstört, Bücher wurden aus den Bibliotheken entfernt. Aber die Erinnerung an ihn wird noch viele Jahre lang erhalten bleiben. Es ist schwierig, aus den veröffentlichten Dokumenten die bekannt gewordenen Fakten der Willkür der Vorkriegszeit herauszufiltern. Als die Verteidigung der Westgrenzen absichtlich geschwächt wurde, um Hitler unser Vertrauen in das Abkommen mit ihm zu beweisen. Es war Stalins „genialer“ Plan, Hitler zu zeigen, dass er von Osten nichts zu befürchten hatte. Im Ergebnis wurden die Armeen in der Ukraine und in Weißrussland in den ersten zwei Monaten des Krieges vollständig vernichtet. Der Feind stand vor den Mauern von Moskau und Leningrad. Und im Sommer 1942 unternahm Stalin eine grandiose Offensive im Süden, mit den Kräften der Kadereinheiten verschiedener Bezirke, mit den neu gebildeten, nicht ausgebildeten und schlecht ausgerüsteten Einheiten. Die vorrückenden Armeen erreichten mühelos den Raum Charkow, wo sie aufgehalten, umzingelt und vernichtet wurden. Danach stürmten die Deutschen nach Osten und erreichten Stalingrad (früher Zarizyn, heute Wolgograd).
Es brauchte also ein ganzes Kriegsjahr mit unkalkulierbaren Verlusten, bis der despotische Stalin begriff, dass es notwendig war, mehr mit den Plänen und Forderungen seiner am Leben gebliebenen Generäle zu arbeiten. Dem sowjetischen Volk mangelte es nicht an der Heimat ergebenen Menschen. Und das Volk fand die Kraft in sich, den Feind aufzuhalten.
Die ersten Kriegswochen
– Also, erzählen Sie.
– Es war in der Stadt Grosny. Ich arbeitete als Hauptbuchhalter in der regionalen Verwaltung von KOGIZ (Staatliche Vereinigung der Buch- und Zeitschriftenverlage). Die Einberufung zum Militär erhielt ich am zweiten Tag. Am dritten Tag trug ich bereits die Armeeuniform und ließ eine Frau mit zwei Kindern allein, die im siebten Monat mit dem dritten Kind schwanger war. Das 70. separate Bataillon der Versorgungsstation wurde aus Reservisten unterschiedlichen Alters gebildet, die größtenteils nicht ausgebildet waren. Wir wurden vierzehn Tage lang in Grosny trainiert. Ich persönlich hielt mich für recht gut vorbereitet und plauderte mit meinem Zugführer darüber, dass ich ein guter Schütze sei. Ich wurde einem Test unterzogen, die Kommandanten waren mit den Ergebnissen zufrieden und versprachen mir sogar ein Scharfschützengewehr.
– Wo haben Sie schießen gelernt? – fragte Michailow.
– Während des Bürgerkriegs habe ich als elfjähriger Junge die Waffen von toten Rotgardisten und Offizieren der Weißen Armee aufgesammelt. So hatte ich zwei Lager mit Waffen. Das große Lager wurde von meiner Mutter entdeckt und sie meldete es dem Kommandeur der Roten Armee. Er zog die Waffen ein und schimpfte mich aus, weil ich sie nachlässig gelagert hatte. Das zweite Lager mit mehreren Gewehren und Patronen hatte ich bereits fachgerecht gelagert und über Jahre hinweg Schießen geübt. Später in Pjatigorsk wurde ich Sieger bei einem Schießwettbewerb.
Nach zwei Wochen in Grosny wurde unser 70. Bataillon an das rechte Ufer der Ukraine (Anm. des Übersetzers: gemeint ist das rechte Dnepr-Ufer) geschickt. Wir irrten lange umher, bis wir die uns zugewiesene Versorgungsstation fanden. Die Station hieß Uman.
Die Front kam auf uns entgegen; in der Nähe von Uman gerieten wir in einen Strom unserer Einheiten, die sich ungeordnet zurückzogen. Und nach dem ersten Gefecht war von unserem Bataillon nichts mehr übrig. Lange Tage mit unorganisierten Kämpfen zogen sich hin. Tagsüber umzingelten uns die Deutschen und zerschlugen uns, so dass wir gezwungen waren, uns in Sonnenblumenfeldern und den kleinen ukrainischen Wäldern zu verteilen. In der Stille der Nacht sickerte jeder, der konnte und so gut er konnte, nach Osten durch. Wann immer es möglich war, schlossen sich kleine und große Gruppen zusammen und setzten sich zur Wehr, aber die Deutschen griffen erneut an und es wiederholte sich schließlich dasselbe. Wir lebten von Viehfutter. Wir hatten keine Zeit zum Schlafen. Und irgendwo, ein paar Kilometer von Bachtanka entfernt, im Oblast Nikolajew, wurde ich gefangen genommen.
– Erzählen Sie davon genauer, – bat Michailow.
– Sie liegen nicht weit von der Wahrheit, wenn Sie aufschreiben, dass ich selbst zu den Deutschen ging.
– Nun, trotzdem genauer?
– In der Nacht zuvor hatte ich mich mit einer Gruppe von Maschinengewehrschützen einer ziemlich großen Kampfeinheit angeschlossen, die sogar über zwei leichte Geschütze verfügte. Irgendwann gegen Mittag blockierten die Deutschen unseren Rückzug nach Osten. Einige der Soldaten nahmen eine Verteidigungsstellung ein, andere wandten sich nach Süden. Ich war in der Verteidigungsstellung. Wir hielten die Deutschen eine ganze Weile auf Distanz. Nach einer Weile begannen die Deutschen jedoch, uns aus der Luft anzugreifen. Bomben pfiffen. Dann gab es eine Explosion. Ich weiß nicht, was dann geschehen war. Ich weiß nicht, wie ich auf den Grund des Bombenkraters gelangte. Ob mich Kämpfer dorthin geschleppt hatten, weil sie ein Lebenszeichen fanden. Ich kroch aus dem Loch. Mein Kopf, mein Rücken und mein rechtes Bein schmerzten. Rundherum war es still, nur gelegentlicher Geschützdonner irgendwo weit im Süden war zu hören. Aufstehen konnte ich nicht. Ich begann mich umzusehen. Nicht weit entfernt sah ich zwei weitere durch Bomben verursachte Krater und in der Nähe die Leiche eines toten Soldaten. Weder mein Gewehr noch das Gewehr des Soldaten waren dort zu finden. Ich habe nicht danach gesucht, um zu schießen. Ich war zu schwach und betäubt, um daran zu denken. Ich brauchte etwas, auf das ich mich stützen konnte.
– Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Ihr Gewehr nicht da war, fragte Michailow.
– Unter dem Druck der Deutschen überquerten wir den Bug bei Wosnesensk, so gut wir konnten. Viele von uns haben ihre Gewehre im Fluss verloren. Auch ich. Aber am nächsten Tag hatte ich bereits wieder eine Waffe, da ich einem gefallenen Soldaten das Gewehr abnahm. Viele Kämpfer blieben jedoch ohne Waffen. Sie zogen trotzdem in den Kampf und verteidigten sich gemeinsam mit allen anderen. Die Waffen der Gefallenen wurden sofort von den Lebenden übernommen.
Die Sonne ging gerade unter. Ich war unerträglich durstig. Ich war bereit, mir die Hand abzunagen und Blut zu trinken. Ich kroch über die Hirse zum Mais. Ein kräftiger Maisstängel diente mir als Stock. Ich kam auf die Beine. Alles tat weh. Ich ging auf die Straße. In einem Kilometer Entfernung sah ich Telegrafenmasten und ein kleines Haus. Wie ich später herausfand, war es ein Bahnwärterhäuschen. Ich konnte nicht mehr klar denken. Anstatt bis zum Abend im Mais zu lauern, ging ich in Richtung des Häuschens. Ich lief lange, setzte mich hin. Die Sonne war schon untergegangen, aber als ich dieses Haus erreichte und mich an die Wand lehnte, war es noch hell. In diesem Moment kamen zwei deutsche Soldaten um die Ecke: automatische Waffen vor der Brust, die Hände hinter dem Rücken. Offensichtlich hatten sie mich schon seit längerer Zeit beobachtet. Alles in mir zitterte. Ich sank in der Nähe der Mauer auf den Boden. Doch nach einer Minute stand ich ohne jeden Befehl auf. An der Geste eines der Deutschen erkannte ich, dass ich kommen sollte. Unmittelbar hinter der Hütte stand ein gepanzerter Mannschaftstransportwagen. Ein paar Schritte entfernt war ein Brunnen, auf dessen Balken ein Eimer mit Wasser stand. Ich eilte zu ihm und begann gierig zu trinken. Dann riss ich mich gewaltsam von dieser Beschäftigung los.
In der Nähe des Hauses befand sich ein Vorgarten. Dort saßen und lagen etwa zwanzig gefangene sowjetische Soldaten. Mehrere waren verwundet, irgendwie mit blutigen Tüchern verbunden. Ein Offizier lag auf einem Mantel, kaum noch am Leben, blutüberströmt. Ich setzte mich am Zaun nieder.
Das war’s. Deshalb sage ich, dass es sich so darstellt, dass ich selbst zu den Deutschen gegangen bin.
– Ich verstehe, sagte Michailow. – Fahren Sie fort.
– Die schlaflosen Nächte forderten ihren Tribut. Ich schlief ein. Am Morgen weckte mich einer der Gefangenen, damit ich aufzustand. Die Deutschen trieben alle aus dem Vorgarten und schafften zwei Lastwagen heran. Wir hoben den verwundeten Offizier auf ein Tuch und legten ihn hinten in den Lastwagen. Auch mir wurde geholfen aufzusteigen. Ich hatte noch Zeit zu bemerken, dass hinter dem Steuer der beiden Wagen Menschen in sowjetischen Uniformen saßen. Jedes Auto wurde von zwei Deutschen begleitet: einer neben dem Fahrer, der andere auf der Ladefläche. Der gepanzerte Mannschaftswagen war nicht mehr da. Wir fuhren in das große Dorf Baschtanka. Das Kriegsgefangenenlager befand sich in einem kleinen Kolchoshof. Über einen Dolmetscher wurde uns befohlen, aus den Fahrzeugen auszusteigen und den schwer verwundeten Offizier nicht anzufassen. Die anderen Verwundeten wurden ebenfalls auf dieses Fahrzeug verladen. Als der Deutsche bemerkte, dass ich einen Stock trug und versuchte, nicht auf meinen rechten Fuß zu treten, kam er auf mich zu und befahl mir über den Dolmetscher, meine Hose herunterzuziehen. Jetzt sah ich zum ersten Mal mein schmerzendes Bein. Direkt über dem Knie war es geschwollen und blau. Wie befohlen, beugte ich mein Bein ein paar Mal am Knie und wurde angewiesen, mich in die Formation zu stellen. Der Wagen mit den Verwundeten fuhr ab (nach Aussage der Einheimischen wurden sie in das örtliche Krankenhaus gebracht).
Wir wurden in das Hauptlager geführt; dort befanden sich etwa zweitausend Gefangene. Die Wachen (vier Männer mit Gewehren an den Ecken des Lagers) verhielten sich recht ruhig, auch wenn sie manchmal Zivilisten anschrien, die sich dem Zaun einfach so näherten. Die Einheimischen brachten uns, was sie konnten: Essen, alte Kleidung. Die Gefangenen haben hier nicht gehungert. Das ging zwei Tage so. Am dritten Tag waren die deutschen Frontsoldaten verschwunden. Stattdessen kamen junge Männer in gelben Uniformen. Keine Menschen, sondern Bestien, obwohl selbst Bestien nicht mit ihnen zu vergleichen sind. Der Bevölkerung wurde strengstens untersagt, sich dem Lager zu nähern. Sollte eine Frau versuchen, sich zu nähern, gibt es einen Schrei und einen Schuss in den Kopf. Und damit kein Zweifel daran bestand, dass es ernst war, wurde eine Frau zehn Meter vom Zaun entfernt erschossen. Sie durfte nicht abtransportiert werden. Auch innerhalb des Lagers wurden zwei Häftlinge getötet, als sie sich dem Zaun näherten. Am nächsten Tag wurden wir zu einer Kolonne von fünf Mann formiert und durch das Dorf geführt. Alle zehn Meter wurden wir von einem Maschinenpistolenschützen flankiert. Zwanzig Meter hinter der Kolonne folgten zwei weitere Maschinenpistolenschützen. Sie schossen auf diejenigen, die zurückblieben. Als wir durch das Dorf gingen, wagte es eine mutige Frau, sich uns mit einem Eimer Wasser zu nähern, der Deutsche schrie sie an. Aber sie sagte: „Herr, es ist nur Wasser“ und ging weiter. Dann krachte ein Schuss und sie fiel tot um.
– Ich unterbreche Sie, mischte sich der ältere Mann ein.
– Wir haben genug über die Gräueltaten der Faschisten in den Kriegsgefangenenlagern gehört. Es ist unangenehm für uns, das zu hören, und noch unangenehmer für Sie, sich an diese Schrecken zu erinnern. Erzählen Sie uns kurz von Ihren „Reisen“ durch die Lager und im Detail von dem Moment an, als Sie sich außerhalb der Ukraine befanden.
In der Vorkriegszeit, vor allem in den Jahren, in denen ich Komsomol-Führer war, wurde ich nicht müde zu behaupten – und ich war mir dessen auch sicher -, dass der Mensch sein Schicksal selbst bestimmt. Wie lächerlich kam mir diese Aussage heute vor….
Man führte und jagte uns zu einem Lager in Krivoy Rog. Hier waren schon mindestens fünftausend Mann vor uns angekommen. Das Lager war bereits eingerichtet. Stacheldraht, Maschinengewehrtürme an den Ecken. Innerhalb des Lagers, drei Meter vom Stacheldraht entfernt, gab es eine Linie, die man nicht überschreiten durfte, sonst würde man ohne Vorwarnung in den Hinterkopf geschossen. Am Rande des Lagers wurde von den Kriegsgefangenen selbst ein Graben ausgehoben. Von einem Ende – je nachdem, wie die Leichen ihn füllten – wurde er wieder mit Erde bedeckt. An medizinische Hilfe war nicht zu denken. Die Deutschen kümmerten sich einfach nicht darum. Und Ärzte aus den Reihen der Kriegsgefangenen konnten oft nicht helfen: Es gab weder Hilfsmittel noch Medikamente.
Die Wachen trugen keine gelben Hemden mehr, sondern Tarnanzüge. Statt Kokarden auf ihren Mützen trugen sie Totenköpfe auf gekreuzten Knochen.
Zur Verpflegung gehörte Brot, das viele Monate in deutschen Lagern gelegen hatte. Früher hatte ich nicht einmal geahnt, in was sich Brot nach langer Lagerung verwandeln kann. Im Inneren war es rot und schwarz mit bitterem Geruch und einem Geschmack nach Chinin. Aber diese Bitterkeit nicht zu essen war unmöglich, denn man hatte die Wahl zwischen Leben und Verhungern. Morgens gab es einen Becher „Kaffee“, ebenfalls etwas Ekliges und Bitteres. Mittаgs gab es einen Becher „Balanda“ – eine Suppe, in der alle möglichen fauligen Dinge verkocht wurden.
Am Eingang des Lagers gab es Hunde und Wachen. Auf dem Gelände des Lagers gab es außer einem Wachhäuschen keine Unterkünfte, so dass die Menschen bei Regen im Freien durchnässt wurden. Viele hatten nicht einmal Mäntel, also wurden sie den Toten abgenommen. So kam auch ich an warme Kleidung. Meinen Mantel hatte ich beim Überqueren des Bug versenkt, um hinüberschwimmen zu können.
An sonnigen, warmen Tagen zogen die Häftlinge ihre Oberkleider aus und zerquetschten Läuse. Auf diese Weise vergingen mehrere Tage. Eines Morgens öffneten die Deutschen die Lagertore, holten alle Kriegsgefangenen heraus und bildeten mit ihnen eine Kolonne zu je fünf Mann. Dann sind wir den ganzen Tag gelaufen. Mindestens fünfzig Kilometer. Es blieben viele Leichen am Wegesrand liegen. Die Nacht verbrachten wir in einer Schlucht, in der bereits Suchscheinwerfer aufgestellt worden waren. Am nächsten Tag erreichte die Kolonne Kirowograd und die Gefangenen wurden in einem noch größeren Lager als in Kriwoj Rog interniert. Die Bedingungen im Lager waren dieselben, nur waren es mehr Menschen, zehntausend. Das Lager füllte sich. Von den neuen Gefangenen erfuhr ich, dass sie am linken Ufer des Dnjepr gefangen genommen worden waren. Das natürliche Hindernis – der Dnjepr, zu dem wir so strebten, hat die Deutschen also nicht aufgehalten. In der Tat wurde am Dnjepr kein einziger Sperrwall für die Deutschen errichtet. Nicht einmal die Brücken wurden gesprengt. Auch wenn lange vor dem Krieg Außenminister Molotow in einer Rede an das Volk sagte, dass der Feind, wenn er unser Land angreifen wolle, auf seinem eigenen Territorium besiegt werden würde. Nun bewegte sich die Front nach Osten, und wir Gefangenen, die wir alle Umstände des ersten Kriegsmonats erlebt hatten, wussten nicht einmal, ob es überhaupt eine Front gab oder ob die Deutschen unser Land, unsere Städte und Dörfer ungehindert besetzten. Alle waren in einem äußerst bedrückten Zustand, und niemand zweifelte daran, dass ihn im Lager der Hungertod erwartete und man ihn hier im Graben begraben werden würde, ohne auch nur seinen Nachnamen zu kennen. Wie die Menschen in Kirowograd und anderen besetzten Städten lebten, wussten wir nicht, denn es war unmöglich, dass irgendwelche Informationen zu uns durchdrangen.
Eine Lektion – für die Kriegsgefangenen und die Deutschen

Eines Tages trug die Wache einen Tisch und einen Hocker aus dem Haus. Einer der deutschen Offiziere kletterte auf den Tisch und die Wachen umringten ihn. Wir merkten, dass sie uns etwas sagen wollten und rückten näher heran, um besser zu hören. Als die Leute sich beruhigt hatten, begann der Offizier auf Russisch zu sprechen, wobei er die Worte schlecht aussprach. Er sagte, dass die „bolschewistischen“ Kräfte vernichtet worden seien, dass die deutsche tapfere Armee vor den Mauern Moskaus und Leningrads stehe und dass diese Städte bald kapitulieren würden. Aber die Bolschewiki sammeln ihre letzten Kräfte und leisten verzweifelten Widerstand. Die Deutschen werden das Leben ihrer Soldaten nicht schonen, um das russische Volk endlich von den Bolschewiki zu befreien. Aber es ist notwendig, dass die Russen den Deutschen dabei selbst helfen. Hier in der Ukraine wird eine Befreiungsarmee auf freiwilliger Basis aus Russen und anderen Völkern der Union unter dem Kommando russischer Offiziere aufgebaut. Diejenigen, die sich dieser Armee anschließen, erhalten deutsche Uniformen, Waffen und Verpflegung, wie alle deutschen Soldaten. Wir fordern Sie auf, sich für diese Armee zu melden. Wer bereit ist, einen Schritt vortreten. Aus verschiedenen Teilen des Lagers begannen einzelne vorzutreten. Ich zählte 17 Männer. Die anderen zogen sich zurück und drückten sich mit dem Rücken gegen die, die hinter ihnen standen. Als der Deutsche sah, dass niemand mehr bereit war, schrie er hysterisch:
– Wer leben will, vortreten!
Aber es trat niemand vor.
Die Deutschen gingen, räumten Tisch und Hocker weg und nahmen die siebzehn freiwilligen „Befreier“ mit. Danach gab es viel zum Nachdenken. Von zehntausend Hungernden und Sterbenden siebzehn – das war nichts. Und unter diesen Tausenden von Kriegsgefangenen gab es auch jene, die mit dem sowjetischen System nicht zufrieden waren, deren Eltern oder Verwandte verfolgt wurden. Aber die Waffe eines Fremden zu nehmen und sie gegen die eigenen Landsleute einzusetzen, war unmöglich. Die Menschen zitterten nicht vor dem drohenden Tod und waren nicht bereit, für einen solchen Preis zu leben. Für mich hatte dieser Tag eine enorme Bedeutung. Ich begriff, dass niemand einen Sowjetmenschen in die Knie zwingen kann, egal welche Prüfungen er zu bestehen hat. Ich mag sterben, aber mein Volk wird leben. Aber auch ich wollte leben. Also beschloss ich zu fliehen. Aber wie?
Flucht
Eines Tages betrat ein deutscher Soldat das Lager, nahm fünfzehn Gefangene mit und brachte sie weg. Außerhalb des Lagers wurden die Bewacher durch zwei weitere deutsche Soldaten verstärkt. Am Abend kehrte die Gruppe zurück.
Später stellte sich heraus, dass sie zur Arbeit in einen Autohof gebracht worden waren, wo sie das Gelände aufräumten. Tagsüber bekamen sie Suppe aus dem üblichen Soldatenkessel und Brotreste. Ich fragte einen von ihnen, ob er nicht versucht habe, zu fliehen. Er antwortete, dass das sehr schwierig sei. Außerdem, wohin sollte man fliehen, überall waren Deutsche. Ich erfuhr auch, dass man sie am nächsten Tag wieder abholen würde.
Am nächsten Tag war die ganze Gruppe in der Nähe des Tores bereit. Als sie kamen, um sie zu holen, versuchte ich, mich ihnen anzuschließen, wurde aber weggejagt. Ein weiteres Mal, als sie kamen, Häftlinge für den Transport zusammenzustellen, gelang es mir, mich der Gruppe anzuschließen und ich kam mit einem Schlag mit einem Gummiknüppel auf den Kopf durch einen Lageraufseher davon. Wir, etwa vierzig Mann, wurden auf Autos verladen und zum Flugplatz außerhalb der Stadt gebracht. Dort wurden wir in Gruppen für verschiedene Aufgaben eingeteilt. Ich fand mich mit einer Gruppe von fünf Mann am Rande des Flugplatzes wieder. Unsere Aufgabe bestand darin, die Platten, die dort aufgestapelt waren, an einen anderen Ort zu tragen. Unserer Gruppe war nur eine Wache zugeteilt. Nach einer halben Stunde fragte ich den Wachmann nach der Toilette und gab ihm zu verstehen, dass ich meine Hose ausziehen müsse. Der Wachmann sah sich um und zeigte auf einen nahegelegenen Busch. Ich ging dorthin. Mein Herz war kurz davor, herauszuspringen.
Gibt es hinter dem Gebüsch Wachposten oder nicht? Etwa zwanzig Meter vor dem Busch hörte ich von hinten: „Halt!“ Ich drehte mich um. Mein Wachmann gab mir zu verstehen, dass ich mich hier hinsetzen solle, ohne hinter das Gebüsch zu gehen. Ich setzte mich hin. Ich beobachte den Deutschen genau. In diesem Moment lief ein anderer Deutscher auf ihn zu und schrie dabei etwas. Der Deutsche, der uns bewachte, entfernte sich und rannte davon, und der andere nahm seinen Platz ein, ohne mich auch nur im Geringsten zu beachten.
Vielleicht hat er mich gar nicht gesehen. Ich rannte los, hinter dem nächsten Busch sah ich mich um – niemand achtete auf mich. Also ging ich weiter. Ich rannte lange Zeit durch Felder, durch Sonnenblumen, und als mich die Kraft verließ, legte ich mich hin und lag da wie ein Toter. Soll werden, was will. Wenn sie mich mit Hunden suchen, werden sie mich finden und dann ist es aus mit mir. Aber niemand kam. Am Ende des Tages ging ich in Richtung Stadt. Am Stadtrand gab es Häuser im ländlichen Stil. Ich suchte mir ein besseres Haus aus, klopfte an und bat um Essen. Mein Aussehen bedurfte keiner Erklärung. Die alte Frau sagte etwas zu einer jungen Frau, und diese begann, für mich aufzutischen. Sie holte Borschtsch aus dem Ofen und schnitt Brot ab. Der Hausherr ging schweigend hinaus.
Ich aß gierig. Die junge Frau beobachtete mich und weinte leise. Es verging einige Zeit. Ein junger Mann mit einer weißen Armbinde und einem Gewehr betrat das Haus. Nachdem er die Frauen begrüßt hatte, setzte er sich auf eine Bank nicht weit von mir und schaute zu, wie ich aß. Ich begriff, dass ich wieder in Schwierigkeiten geraten war. Nach einem kurzen Schweigen fragte der Mann (es war ein Polizist):
– Wer bist Du?
Ich beschloss, nichts zu verheimlichen.
– Ich bin von den Deutschen abgehauen. Ich war in Kriegsgefangenschaft.
Ich beschloss, den Einfaltspinsel zu spielen.
– Und Sie? Wer sind Sie?
– Siehst du die Armbinde nicht?
– Ich sehe die Armbinde, aber ich weiß nicht, was sie bedeutet.
Ich aß auf, erhob mich und bedankte mich bei meinen Gastgebern.
– Gehen wir, sagte der Polizist.
Als wir das Haus verließen, schluchzte die junge Frau herzergreifend. Der Hausherr stand im Innenhof und schaute bewusst weg. Nachdem wir etwa dreihundert Meter die Straße entlanggegangen waren, blieben wir in der Nähe einer Gasse stehen.
Der Polizist sagte: „Du gehst diesen Weg hinunter Richtung Feld, weg von der Stadt. Versuch, nicht von Leuten wie mir erwischt zu werden. Wenn Du etwas brauchst, such Dir ein ärmeres Haus, sonst triffst Du wieder auf solch einen Mistkerl. Nun denn, ich wünsche Dir eine gute Reise.“
Ich ging die Landstraße entlang, bereit, mich jeden Moment irgendwo zu verstecken. Als die Dunkelheit hereinbrach, war ich am Rande eines Bauernhofs. Hinter dem Weidezaun sah ich einen kleinen Schober aus altem Stroh. Ich kauerte mich an ihn, fest entschlossen, die Nacht dort zu verbringen.
– Warum sitzt Du hier rum? Lass uns in die Hütte gehen.
Ich sprang auf. Ein alter Mann stand vor mir. Was ist los? Gibt es wieder Ärger? Nein, wohl kaum. Der alte Mann ist nicht so einer, und das Haus ist arm. In der Hütte waren eine alte Frau und ein Junge, etwa acht Jahre alt. Bald darauf kam eine junge Frau herein. Wie sich herausstellte, war ihr Mann an der Front. Wir haben uns eine ganze Weile unterhalten. Dann machten sie mir ein Nachtlager auf dem Fußboden neben dem Ofen. Am Morgen ließ mich die alte Frau nirgendwo mehr hin.
– Wohin willst du denn gehen? Haut und Knochen. Lebe, sammle Kraft.
Ich blieb zwei Tage bei ihnen. Sie hatten selbst fast nichts. Um mir zu helfen, teilten sie das letzte Stück mit mir.
Eine Woche später war ich in der Nähe von Krivoy Rog. Ich wurde mutiger und ging vom Stadtrand tiefer in die Stadt hinein, um mich über die Lage zu informieren. Ich hoffte, eine passende Person zu treffen, um Fragen zu stellen. Und ich traf jemanden. … Ich wusste nicht einmal, woher sie kamen: ein deutscher Offizier und ein Polizist. Sie nahmen mich fest und brachten mich zur Polizeiwache, die gleich um die Ecke war.
Ich sagte, dass ich aus Dnepropetrowsk stamme, in der Armee und an der Grenze eingekesselt war. Die Einheit wurde zerschlagen, ich habe mich im Dorf versteckt. Anscheinend glaubte man mir nicht. Auf Befehl des Deutschen verprügelte mich ein Polizist ziemlich heftig. Dann wurde ich in das Lager gebracht, in dem ich bereits gewesen war. Als wir uns dem Lager näherten, ging der Polizist weg. Mir wurde befohlen, am Tor zu warten. Ich dachte, dass die Deutschen wahrscheinlich vor aller Augen eine Exekution durchführen oder mich einfach erschießen wollten.
Ich beschloss, nicht auf mein Schicksal zu warten. Wenn ich mich unter die Masse der Kriegsgefangenen mischte, war es fast unmöglich, mich von den anderen zu unterscheiden. Nach einer Weile kamen mein Polizist und zwei deutsche Offiziere aus der Baracke, aber ich war nicht mehr da. Es endete damit, dass meine Eskorte beschimpft und aus dem Lager geworfen wurde.
So, ich bin also wieder im Lager. Neu war für mich hier nichts. Das einzige, was mir auffiel, war, dass viele Kriegsgefangene völlig barfuß waren. Ich brauchte dafür keine Erklärungen. Ich habe selbst miterlebt, wie die deutschen Soldaten jeden Tag nach geeigneten Stiefeln für sich gesucht haben. Sie riefen die Gefangenen zu sich, probierten sie an, und wenn sie passten, gaben sie ihnen ihre abgenutzten. Den barfüßigen Gefangenen blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis einer ihrer Kameraden starb, um die Stiefel des Toten zu übernehmen.
Die schrecklichen Tage der Gefangenschaft zogen sich hin. Von Krivoy Rog wieder nach Kirovograd. Von dort nach Belaja Zerkov, dann weiter nach Berditschew. Von Kirovograd nach Belaja Zerkow fuhren wir drei Tage lang mit dem Zug. Wir standen mehr, als dass wir fuhren. In offenen Waggons, in denen normalerweise Kohle transportiert wird. Hohe Metallwände ohne Dach. Sie luden so viele Gefangene ein, wie sie im Stehen unterbringen konnten. Beim Verladen erhielt jeder ein halbes Kilogramm Brot, das noch einigermaßen erträglich war. In den nächsten drei Tagen gab es weder Brot noch Wasser. Zum Glück waren die Tage regnerisch. Nachts an den Haltestellen versuchten einige zu fliehen, sie wurden sofort erschossen. In Berditschew trugen mich meine Füße kaum noch.
Es war selten, dass man jemanden aus den Lagern zur Arbeit holte, und es war nahezu unmöglich, zu ihnen zu gehören. Die Kontrollen derjenigen, die sie nahmen, waren sehr scharf. Von Berditschew aus wurde ein Teil der Häftlinge nach Deutschland oder in ein anderes westliches Land geschickt.
Einmal kam ein deutscher Soldat in das Lager Berditschew. Er ging ruhig an den auf dem Boden sitzenden Häftlingen vorbei, blieb stehen, zeigte mit dem Finger auf einige von ihnen und sagte: „Komm!». Viele drängten sich zu ihm, aber er hielt die anderen mit einer Geste auf. Er nahm fünf Männer mit. Ich war unter ihnen. Ein anderer deutscher Soldat wartete draußen vor dem Tor. Wir wurden durch die Stadt geführt. Wir hätten es riskieren können, wegzulaufen, aber wir hatten nicht einmal die Kraft einfach zu gehen. Wir wurden zu einem großen Hof geführt, auf dem mehrere Dutzend Autos geparkt waren. Es sah aus wie ein Autohof. Zuerst mussten wir den Hof aufräumen. Zur Mittagszeit bekamen wir Suppe aus einem gewöhnlichen Soldatenkessel und einige Brotreste. Der deutsche Offizier, der uns die ganze Zeit schweigend beobachtete, schien ziemlich grimmig zu sein, aber mit seinen Soldaten war er ziemlich locker. Am Ende des Tages stellten wir uns vor dem offenen Tor auf. Zwei deutsche Soldaten bewachten uns. Dann kam der Offizier heraus. Er sagte etwas zu den Soldaten und sie gingen. Der Offizier schaute uns eine Minute lang schweigend an, dann brüllte er: „Raus!“
Wir standen da und verstanden nichts. „Raus! Bistro, zu Muttern nach Hause!». Dann drehte er sich abrupt um und ging ins Haus. Als es uns dämmerte, was von uns verlangt wurde, waren wir wie vom Donner gerührt.
Was erwartet mich noch an Außergewöhnlichem, solange ich lebe? Ich rannte los, ohne auf die anderen zu achten. Ich erinnere mich an einen Zaun, noch einen, noch einen, Gruben. Über alle Hindernisse stürzte ich, rannte weiter, bis ich auf dem Hof eines Hauses eine alte Frau sah. Und dann schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Warum renne ich so? Es wird keine Verfolgung geben!
Ich ging auf die Frau zu und sagte kaum atmend, dass ich vor den Deutschen geflohen sei. Sie zog mich am Ärmel ins Haus. Sie fing an, durch das Zimmer zu rennen und hielt sich die Hände an den Kopf: „Oh mein Gott. Man wird mich umbringen.“ Dann packte sie mich am Ärmel und schob mich zum Heu. Dort öffnete sie die Klappe zum Keller. „Steig hinunter, dort ist eine Leiter. Wenn du ein Glas Milch findest, trink es!“. Ich stieg hinunter. Die Klappe ging zu. Ich hörte, wie sie alle möglichen Sachen auf die Klappe warf. Dann knarrte die Tür und sie ging weg. Wieder Ärger, frage ich mich.
Ich habe nicht lange überlegt. In der absoluten Dunkelheit fing ich an, das Stroh zu durchwühlen. Ich fand eine Kanne, dann noch eine, eine dritte… In welcher war die Milch? Ich kostete eine – Milch. Und konnte nicht aufhören. Nach einer Weile stellte ich den Krug wieder an seinen Platz, völlig leer. Ich setzte mich auf eine Stufe der Leiter und wartete. Ein oder zwei Stunden später ging die Tür knarrend auf und jemand rüttelte an den Gegenständen auf dem Kellerdeckel. „Hey! Wo bist du da drin? Komm raus!“ Ich kletterte hinaus und ging mit der Hausherrin ins Zimmer. Dort stand ein bärtiger Mann. Meinen Gruß beantwortete er mit einem Kopfnicken. Er schwieg lange, dann fragte er: „Viele Läuse?“ „Reichlich», antwortete ich.
„Ich sag dir was, Maria“, sagte der Bärtige, «es wird niemand kommen, um ihn zu holen, hab keine Angst. Koche ihm viel Wasser ab, lass ihn sich waschen. Zieh ihm etwas Sauberes an, und leg alle seine Kleider ins Heu. Morgen früh komme ich ihn abholen.“ Und er ging fort.
Ein neues, ungewisses Leben hatte begonnen. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Maria sagte, der bärtige Mann sei ihr Bruder Ignat. Und dass ich keine Angst vor ihm zu haben brauchte.
Am Morgen, gegen zehn Uhr, kam Ignat mit einem Jungen von etwa zehn Jahren.
Warum hast du gestern gesagt, dass du vor den Deutschen geflohen bist? – fragte Ignat.
– Sie haben Dich doch selbst weggejagt, nicht wahr?
– Ja, das stimmt. Aber es war so unglaublich, dass ich es für einen Scherz hielt und immer wieder mit einer Kugel rechnete.
– Wie viele wart Ihr?
– Fünf Männer.
Ignat nickte mit dem Kopf. Wir unterhielten uns eine ganze Weile. Dann zog ich das an, was er mir mitgebracht hatte: eine schwarze Hose, eine Wattejacke, eine Mütze. Alles außer der Mütze war sehr alt, Flicken auf Flicken. Meine Stiefel hatte ich noch an, Soldatenstiefel, die noch gut waren. Nachdem ich viele Ermahnungen erhalten hatte, ging ich in Begleitung des Jungen los. Wir mussten zehn Kilometer bis zum Chutor laufen, in dem die Mutter von Ignat, die Großmutter des Jungen Stepa, lebte. Der Chutor war klein, eineinhalb Dutzend Häuser. Die Großmutter war zu Hause. Stepa erzählte ihr alles über mich und gab Ignats Bitte weiter, dass seine Mutter mich bis zu meiner Wiederherstellung bei ihr wohnen lassen sollte. Während Stepa mir das alles erzählte, saß ich auf den Steinen neben der Hütte. Nach zehn Kilometern Fußmarsch hatte ich keine Lust mehr, mich zu bewegen. Der Junge ging gegen Abend fort. Die alte Frau erwies sich als sehr nett und nicht dumm. Sie fütterte mich mit allem, was sie bei sich und ihren Nachbarn finden konnte. Ich kam schnell wieder zu Kräften. Ich begann sogar, ihr im Haus zu helfen. Ich versuchte zu reparieren, was nicht mehr in Ordnung war. Die alte Frau war bereit, mich für eine lange Zeit bei sich wohnen zu lassen. Aber es war schwer, mich zu halten. Meine Seele sehnte sich danach, nach Osten zu gehen. Schließlich beschloss ich aufzubrechen, nachdem die alte Frau ihren grauen Kopf in meinen Schoß gelegt und mich genötigt hatte, Läuse zu suchen und zu bekämpfen.
Heute, nach 34 Jahren, ist es schwer zu erklären, wie ich durch die Ukraine irrte und nach zweieinhalb Monaten endlich den Dnjepr erreichte. Ich erkannte die tiefe Wahrheit der Aussage, dass der Mensch sich im Unglück zeigt. Ich suchte die Nähe zu den Menschen, ohne zu wissen, wer ein Freund war und wer ein Schurke. Ich schlief in Dorfhütten und im Wald. Ich umging große Siedlungen, um nicht wieder von den Deutschen erwischt zu werden. Was ich in dieser Zeit gesehen und gehört habe, ist schwer zu begreifen. Schon in den Lagern fiel mir auf, dass es unter den Kriegsgefangenen nur wenige Ukrainer gab. Eine Zeit lang dachte ich, dass sie einfach zum Dienst in andere Republiken geschickt wurden. Das war zum Teil richtig. Aber es gab noch eine andere Erklärung. Die zu Beginn des Krieges eilig gebildeten Einheiten auf dem Gebiet der Ukraine leisteten den Deutschen keinen ernsthaften Widerstand. Viele Kämpfer warfen ihre Waffen weg und verstreuten sich in ihre Heimat. Später wurde jede Ortsveränderung in der Ukraine gefährlich. Es ergingen spezielle deutsche Befehle, die es den Anwohnern verboten, jemandem Unterkunft und zu essen zu geben. Bei Zuwiderhandlung waren drakonische Strafen vorgesehen, bis hin zur Erschießung. An dieser Stelle ist es notwendig, vorauszuschicken, dass die Ukrainer beim Vormarsch der sowjetischen Armee aufopferungsvoll in Partisaneneinheiten kämpften. Die Gräueltaten der Faschisten halfen den Menschen zu erkennen, was sie erwartete, falls die Deutschen den Krieg gewinnen würden. Aber das war später. Doch am Anfang…
In jeder Stadt und jeder größeren Siedlung richteten die Deutschen unmittelbar nach der Besetzung zusätzlich zu ihrer Kommandantur Selbstverwaltungsorgane ein, die unter der Leitung der deutschen Kommandantur agierten. Dies waren der Bürgermeister mit seinem Stab und der Polizeichef mit seinen zahlreichen Polizisten. In kleinen Dörfern und Siedlungen gab es Vorsteher, die Starosta. Freiwillige für den Dienst hatten die Deutschen genug. Aber für Ämter wie Bürgermeister oder Polizeichef setzten die Deutschen bereits zuvor geschulte Leute ein, ihre Agenten, die sich bis zur Ankunft der Deutschen unter den Sowjetbürgern versteckt hielten. Erst der Krieg offenbarte, wie groß und umfangreich die Agenturen der Deutschen auf dem Gebiet der Sowjetunion waren.
Von den ersten Tagen an begannen Sonderkommandos der deutschen Kommandanturen alle Juden, ob alt oder jung, bis hin zu den Säuglingen, in Lager zusammenzutreiben, vorgeblich zur Umsiedlung. In Wirklichkeit brachten sie sie aus der Stadt hinaus, erschossen und vergruben sie in zuvor ausgehobenen Gräben. Im Gebiet Kiew und in Babi Jar wurden mehr als 40 000 Kiewer Bürger verscharrt. 7-8 Tausend wurden an Orten wie Berditschew, Belaja Zerkow und Skwira getötet.
Bis zum Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion berichtete die Presse – wenn auch diskret, um die Deutschen nicht zu verärgern – darüber, wie die Deutschen mit Juden und Kommunisten zuerst in Deutschland selbst und dann in Polen und anderen besetzten Ländern umgingen. Und während die Kommunisten und ihre Familien aus Angst vor Repressalien evakuiert wurden, als die Deutschen angriffen, glaubten die Juden diesen Berichten nicht. Die meisten von ihnen waren bis zuletzt davon überzeugt, dass eine so kultivierte Nation wie die Deutschen nicht einfach ein anderes Volk ausrotten konnte. Mit den gebliebenen Kommunisten gingen die Deutschen ebenso brutal um und ließen nur diejenigen am Leben, die selbst in die deutsche Kommandantur kamen, um sich zu stellen und ihre Kameraden zu verraten. Es gab solche….
Es versteht sich von selbst, dass die Deutschen nicht in der Lage gewesen wären, Juden und Kommunisten so schnell zu identifizieren, wenn die Einheimischen ihnen nicht nach Kräften geholfen hätten. Von den Polizisten einmal abgesehen, gab es so viele Zuträger, dass es für einen Juden praktisch unmöglich war, sich unter den Einheimischen zu verstecken. Damals wurde mir auch klar, warum es in den ukrainischen Dörfern so viele Menschen gab, die den Deutschen gegenüber so wohlwollend eingestellt waren. Die Kollektivierung des Dorfes, die grob und gewaltsam durchgeführt worden war und die Wirtschaft der Dörfer untergrub, hatte viele Bauern gegen die Sowjetmacht aufgebracht.
Das ukrainische Land ist nicht sehr waldreich. Sich hier zu verstecken ist viel schwieriger als zum Beispiel in Weißrussland. Daher war die Partisanenbewegung in der Ukraine weniger entwickelt als in anderen Gebieten. Partisanengruppen entstanden spontan aus einzelnen sowjetischen Offizieren und Soldaten, die im deutschen Hinterland der Front verblieben waren. Ihnen schlossen sich Geflohene aus städtischen und ländlichen Siedlungen an, denen offensichtlich Repressalien drohten. Diese Partisanengruppen, dürftig bekleidet und bewaffnet, führten anfangs keinerlei Kämpfe gegen die Deutschen. Das kümmerte sie nicht. Neben diesen traten die so genannten falschen Partisanen auf. Einfach ausgedrückt waren das Banden von Räubern, die die Bevölkerung ausraubten. Sie fürchteten sich gleichermaßen vor den Deutschen und den Partisanen. Einzig die Polizisten fürchteten sie nicht. Diesen kamen die Aktivitäten dieser Banditen zugute, da sie die Partisanenbewegung in den Augen der Bevölkerung diskreditierten.
Einmal, als ich abends an einem abgelegenen Chutor vorbeikam, sprach mich ein Mann mittleren Alters an. Er lud mich ein, in die Hütte zu kommen. Dort saßen drei weitere Männer mit Gewehren. Sie begannen, mich auszufragen: Wer bist Du? Woher kommst Du? Und so weiter. So wie ich es verstand, waren sie Späher einer Partisaneneinheit. Meine Bitte, mich ihnen anschließen zu dürfen, wurde kategorisch abgelehnt. Sie begründeten dies damit, dass mich niemand kannte. Und wem würde ich ohne Waffe nützen? Sie schlugen vor, dass ich mich erst einmal im Dorf niederlassen sollte und wenn sie mich brauchten, würden sie mich holen.
Raub und Willkür nahmen in den besetzten Gebieten die hässlichsten Formen an. Frauen mit Kindern, die oft in die Dörfer gingen, um Sachen und allen möglichen Ramsch gegen etwas zu essen einzutauschen, wurden auf den Landstraßen schnell ausgeraubt. Auch die Polizisten waren an solchen Raubüberfällen beteiligt. In den Städten gab die deutsche Kommandantur Lebensmittelkarten und Hungerrationen nur an diejenigen aus, die für sie arbeiteten. Der Rest wurde systematisch ausgehungert.
Der Herbst kam, und mit ihm häufige Regenfälle und kalte Nächte. Es gab keine Möglichkeit mehr, den Dnjepr zu überqueren, die Brücken waren schwer bewacht. Die Boote waren entweder zerstört oder unter Verschluss. Ich beschloss, dass ich einen Platz für eine längerfristige Unterkunft finden musste. Im Rayon Krynichanskiy in im Oblast Dnepropetrowsk stieß ich auf einen kleinen Chutor namens Dibrowa. Von den Leuten erfuhr ich, dass der Starosta dieses Hofes nicht der Schlechteste war und bereits zwei Menschen wie mich untergebracht hatte. Ich ging direkt zu ihm in die Verwaltung, die sich in der Verwaltungsgebäude der Kolchose befand. Ich hatte Glück, der Starosta war vor Ort und unterhielt sich mit irgendeinem alten Mann. Als die Reihe an mir war, erzählte ich ihm alles, was ihn interessierte.
– Was kannst Du bei uns tun?
– Ich bin auf dem Land geboren und aufgewachsen, später habe ich mich in der Stadt niedergelassen.
– Und kennst Du den Unterschied zwischen Weizen und Hirse?
– Weizen und Hirse sind nicht schwer zu unterscheiden, antwortete ich.
Der Starosta lächelte und schon an den alten Mann gewandt, fragte er:
– Nun, Großvater Plachotnik, wirst du ihn aufnehmen?
So kam ich in das Dorf Dibrowa, wo ich über den Winter bis Juni 1942 verbrachte. Die Hütte von Großvater Plachotnik erwies sich als eine der ärmsten im Dorf, ein Zimmer mit einem Lehmboden. Bei ihm lebten seine Tochter Marfa und ihr Mann Wassili, der aus der Roten Armee desertiert war und damit bei Gelegenheit zu prahlen pflegte. Vom ersten Tag an spürte ich seine Abneigung gegen mich und um unnötige Exzesse zu vermeiden, vermied ich jedes Gespräch mit ihm.
Die Deutschen bemühten sich vielerorts, die Kolchosen zu erhalten. Es war einfacher, den „Tribut“ von den Kolchosen einzutreiben als von jedem Einzelnen. So wurde auch hier das geschnittene Korn gemeinsam gedroschen. In unserer Brigade waren wir etwa zehn Leute, alles Nichteinheimische. Wir bekamen zweimal am Tag zu essen – ob gut oder schlecht, es war besser als im Lager. Bei der Arbeit in dieser „Kolchose“ musste ich mit vielen Menschen sprechen. Durch Wassilis flinke Zunge bekam ich den Spitznamen „Kommissar“. Die Kinder nannten mich auch so. Einmal kam ein Polizist aus dem großen Nachbardorf zu uns. Als er von meinem Spitznamen erfuhr, beschloss er sofort, mich gründlicher kennenzulernen.
– Hey, Kommissar!
Ich sah mich um. Es war ein Polizist. Ich zeigte fragend auf mich. Er nickte.
– Warum reagieren Sie, wenn man Sie „Kommissar“ nennt?
– Ich bin daran gewöhnt.
– Und schon lange?
– Seit zwei Monaten.
– Warum haben sie Ihnen diesen Spitznamen gegeben?
– Keine Ahnung, wahrscheinlich kannten sie einen Kommissar mit so einem langen Schnurrbart.
– Und gefällt es Ihnen, so genannt zu werden?
– Manche Leute nennen mich einfach „Iwan“.
– Und vor dem Krieg?
– Iwan Gordejewitsch.
– Und was haben Sie gemacht?
– Buchhalter.
– Und in der Armee?
– Vor dem Krieg habe ich nicht in der Armee gedient. Und als der Krieg begann, war ich Gefreiter.
– Waren Sie Kommunist?
– Ich habe noch nie gehört, dass Buchhalter Kommunisten waren.
Er fragte mich noch dies und das, dann ließ er mich gehen. Dem Starosta sagte er, er solle das Wort «Kommissar» verbieten.
Als er sah, dass ich mich oft mit den Dorfbewohnern unterhielt, bemerkte mein Großvater Plachotnik einmal in Abwesenheit von Wassili mir gegenüber: «Gib nicht zu viel von deiner Seele preis. Sie werden Dich verraten, so wie sie es unter Stalin getan haben.“
Die städtischen Sklavenarbeiter und wir Kriegsgefangenen verlangten nicht einmal bezahlt zu werden. Wir trugen Lumpen und waren dankbar, dass man uns etwas zu essen gab. Wer sollte uns bezahlen? Das gedroschene Getreide wurde zur Eisenbahn gebracht und von dort nach Deutschland. Viele Bauern selbst litten Hunger.
Im Juni 1942 kam ein Polizist zu mir. Er erklärte mir, dass ich zu denjenigen gehöre, die der Chutor zur Arbeit in Deutschland eingeteilt hat.
Insgesamt waren es 10 Personen. Auf dieser Liste standen drei Kriegsgefangene (darunter ich) und sieben Einheimische, natürlich aus den ärmeren Familien. In Begleitung von zwei Deutschen und einem Polizisten wurden wir nach Dneprodzerzhinsk gebracht und in einen Güterzug verladen. Bei der Abfahrt aus Dibrowa waren die Tränen der Mütter herzzerreißend. Der Güterzug wurde so bewacht, wie Verhaftete bewacht werden. Nachts wurden die Wachen durch einfache Soldaten ersetzt, die nach Deutschland in den Urlaub fuhren.
Der Zug fuhr am Morgen ab. Zwei Tage lang bekamen wir weder zu essen noch zu trinken. Wir aßen, was wir von zu Hause mitgebracht hatten. In letzter Minute brachte Großvater Plachotnik ein Stück Brot. Am dritten Tag wurden wir an einem der Bahnhöfe mit Eimern für Wasser und die Notdurft versorgt. Manchmal bekamen wir auch etwas zu essen. An manchen Stationen durften wir sogar hinausgehen, um Wasser oder etwas zu essen zu besorgen …. Die deutschen Soldaten waren nicht sehr streng. Das habe ich ausgenutzt. An einem der Bahnhöfe fuhr der Zug ohne mich weiter…
Der Kreis schloss sich. Ich war wieder ein Landstreicher, aber schon mit einiger Erfahrung. Doch was hatte sie mir gebracht?
Für die Soldaten der zerschlagenen Einheiten, deren Heimat weit jenseits der Grenzen der Ukraine lag, gab es nur zwei Auswege: Entweder sie schlossen sich zusammen und zogen in die Wälder, um einen Partisanenkrieg zu führen (sofern sie Waffen hatten) oder sie ließen sich bei ukrainischen Witwen nieder. Letzteres war nicht schwer. Der Krieg hatte viele Frauen ohne Ehemänner zurückgelassen. Aber das war nichts für mich. In Grosny hatte ich eine Frau und drei Kinder zurückgelassen. Sie fristeten wahrscheinlich ein halbverhungertes Leben. Und ich soll hier meine Seele verkaufen? Selbst wenn es mein Leben rettet, doch das war nicht das, was ich wollte.
Ich habe versucht, mich als Handwerker zu verdingen. Aber wer braucht schon Handwerker, wenn es keine Reichen gibt? Nachdem ich herausgefunden hatte, dass die Stadt Belaya Zerkow nicht weit entfernt war, wagte ich mich zum ersten Mal in eine große Siedlung, um mich unter das arbeitende Volk zu mischen. Am nächsten Tag geriet ich in eine Razzia und wurde verhaftet. Die Verhafteten wurden schnell überprüft und die Verdächtigsten hinter Schloss und Riegel gebracht. Ich war unter ihnen. Am nächsten Tag wurde ich zum Verhör geholt. Meine Kleidung wurde sorgfältig untersucht, ich wurde befragt, wer ich bin und woher ich kam. Ich hatte Zeit, mir eine ehrlich klingende Geschichte auszudenken. Sie glaubten mir, brachten mich zum Bahnhof und setzten mich in einen Güterzug, der irgendwo in der Nähe von Dnepropetrowsk zusammengestellt worden war, um nach Deutschland geschickt zu werden. Ich fand mich in einem Waggon wieder, der nirgends aufgefüllt wurde und hauptsächlich aus Freiwilligen bestand, die sehr deprimiert darüber waren, wie Gefangene behandelt zu werden. Die Härte der Behandlung war unglaublich. Die Türen waren von außen verschlossen. Bereits in Polen wurden wir in einen anderen Waggon verladen. Es gab eine reale Fluchtmöglichkeit, aber ich bin nicht geflohen. Die endlosen Misserfolge hatten vorübergehend etwas in mir zerbrochen. Es spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass wir uns bereits in einem fremden Land befanden.
Im Folgenden werde ich so weiter berichten, wie ich es bei der Befragung getan habe.
– Also, – fragte Michailow – wo sind Sie danach hingekommen?
Kriegsgefangenenlager Neubrandenburg

Der Zug endete in der deutschen Stadt Neubrandenburg im Norden Deutschlands. Nachdem vier Waggons abgekoppelt worden waren, fuhr er weiter. Ich verblieb in Neubrandenburg. Am Rande der Stadt war ein Lager für uns vorbereitet worden, das bereits weitgehend bewohnt war. Und wie sich herausstellte, waren wir der letzte Neuzugang. Wir wurden alle vorsorglich desinfiziert, einige von uns bekamen sogar andere Kleidung. Ich zum Beispiel erhielt einen abgetragenen Anzug. Mir fiel auf, dass die Kleiderkammer voll mit ähnlichen Sachen war. Wahrscheinlich handelte es sich um die Kleidung von Häftlingen, die in den faschistischen Konzentrationslagern vernichtet worden waren.
Das Lager war von einer einfachen Reihe Stacheldraht umgeben. Die Wachen standen nur am Tor. Es gab zehn Baracken im Lager: vier für Männer, vier für Frauen, in einer gab es Lagerräume und eine Küche, in einer anderen eine Sanitäranlage und ein Badehaus. Wir arbeiteten in einer Fabrik, in der Kisten für Fliegerbomben hergestellt wurden.
Eines Tages, bevor wir zur Arbeit gebracht wurden, kam der Lagerkommandant auf mich zu und fragte mich über einen Dolmetscher, was ich von Beruf sei. Ich antwortete ohne zu zögern: Tischler. Nach einiger Zeit wurde ich in eine Werkstatt versetzt und zur Arbeit im Lager eingeteilt. In der Werkstatt gab es viele verschiedene Platten, eine Werkbank und Schreinerwerkzeuge. Meine erste Aufgabe war es, eine Hütte für den Hund des Lagerkommandanten zu bauen. Ich überlegte nicht lange und baute sie in Form einer exakten Kopie der Kapelle, die sich dreihundert Meter von unserem Lager entfernt befand, nur natürlich in „Hundegröße“. Der Hund war meiner Schöpfung gegenüber ziemlich gleichgültig. Die Lagerinsassen lachten leise über mein Werk und fragten sich, vor wem ich buckelte, dem Hund oder dem Lagerkommandanten selbst. Ich wollte nur, dass der Hund ein bisschen besser lebte als sein Herrchen. Doch sein „schönes“ Leben währte nicht lange. Als einmal ein hochrangiger deutscher Beamter unseren Kommandanten besuchte, wurde mir befohlen, meine architektonische Schöpfung sofort zu zerstören und dem Hund einen normalen Wohnsitz zu verschaffen.
Die Position des Lagerschreiners brachte mir einige Vorteile. Mit einer Werkzeugkiste bewaffnet, kam ich überall hin. Mir fiel es leicht, die Leute kennenzulernen. In der Küche konnte ich immer eine Extraportion Suppe bekommen, und aus dem Lager konnte ich ein Dutzend Kartoffeln holen, um sie im Heizraum des Badehauses zu backen und sie an diejenigen zu verteilen, die besondere Unterstützung brauchten.
Zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung im Lager wurde ein Vorsteher, ein Starosta ernannt. Der stets stirnrunzelnde, unkommunikative Starosta Antonow rief von Anfang an eine besondere Abneigung im Lager hervor. Ab einer gewissen Zeit trug er einen Knüppel bei sich, mit dem er nicht davor zurückschreckte, gelegentlich jemandem auf den Rücken oder den Kopf zu schlagen.
Als er mich neben einer Baracke traf, sagte er:
– Sie müssen alles nur auf meinen Befehl hin tun.
– Ich habe den Lagerführer anders verstanden, antwortete ich und wandte mich zum Gehen. Antonow erhob seine Stimme:
– Wissen Sie, dass ich der Lagerführer bin?
Ich drehte mich um, trat dicht an ihn heran und sagte leise, aber entschlossen:
– Ich rate Ihnen, Ihre Kräfte nicht umsonst zu vergeuden, beschäftigen Sie sich mit den Menschen, die Wirtschaft wird ohne Sie klarkommen.
Antonow war verblüfft. Er verstand mich genau so, wie ich es wollte; dass ich besondere Vollmachten vom Lagerführer hatte.
Dieses Gespräch hatte Folgen. Wenn er mich irgendwo im Lager sah, verbeugte er sich vor mir. Wenn er in eine Baracke ging, um jemanden wegen irgendeiner Lappalie anzuschreien und mich sah, hielt er sofort den Mund und ging. Andere fingen an, das zu bemerken und fragten mich sogar, was das zu bedeuten habe. Und ich antwortete immer, dass er wahrscheinlich Angst vor meinem Schnurrbart habe.
An diesem Punkt unterbrach Michailow meine Erzählung und bat mich, mehr über diejenigen zu erzählen, die ich als „Freiwillige“ bezeichnete.
Ich fuhr fort:
– Antonows Gegenspieler war der Arzt Kowalew. Ein junger Mann in den Dreißigern. Über ihn hieß es im Lager, er sei zu jeder Gemeinheit bereit. Sowohl Antonow als auch Kowaljow rühmten sich damit, dass sie freiwillig nach Deutschland gekommen waren. Doch Kowaljow hatte deutliche Vorteile: Er sprach ein wenig Deutsch und berichtete dem Lagerführer ohne Dolmetscher über die Angelegenheiten des Lagers. Da wurde mir klar, dass Antonow es Kowaljow zu verdanken hatte, dass der Lagerführer ihm gegenüber äußerst unfreundlich war. Ich begriff auch, dass ich vor allem mit Kowaljow nicht scherzen sollte. Einmal, als ich eine Tür im Sanitärbereich reparierte, kam sprach Kowaljow mich an. Zuerst war er verschlagen, dann begann er, sich immer mehr zu offenbaren. Ganz gleich, wie der Krieg ausginge, meinte er, er habe in Russland nichts mehr zu suchen. Den bolschewistischen Geist der Russen würde man ohnehin nicht besiegen können, aber im Westen könne er die wahre Freiheit finden. Man muss nur das Vertrauen der Deutschen gewinnen. Überhaupt philosophierte Kowaljow gern, sprach oft und lange mit den Kranken. Es dauerte jedoch eine Weile, bis die Lagerinsassen verstanden, dass Kowaljow nur seinen Körper öffnen konnte, nicht aber seine Seele. Diese Entdeckung verdankte das Lager zwei Jugendlichen, die nach ihrer Entlassung aus der Krankenstation direkt in das Konzentrationslager gebracht wurden.
Ich kannte noch einen anderen «Freiwilligen». Sein Nachname war Pankratow, etwa zwanzig Jahre älter als ich (ich war damals 36). Auch er nannte sich «Freiwilliger», war ein ehemaliger Offizier der Weißen Armee und sprach «ein wenig» Deutsch. Das machte ihn bei den Lagerinsassen nicht gerade beliebt. Mir fiel jedoch auf, dass er die Kommunikation mit den Deutschen vermied und den ihm angebotenen Posten des Starostas ablehnte. Über einen Dolmetscher überzeugte er den Lagerführer, dass er aufgrund seines Alters und seiner Gesundheit dafür nicht geeignet war.
Außerdem bemerkte ich, dass er, obwohl er «schlecht» Deutsch verstand, jeden Abend, wenn er aus der Fabrik kam, eine deutsche Zeitung herausholte und sie an einem abgelegenen Ort las. Wie kann man, dachte ich, ohne die Sprache zu beherrschen, deutsche Zeitungen lesen? Ich begann, ihn zu bearbeiten, und bat ihn dann direkt um die Beantwortung von Fragen, die mich schon lange interessierten.
– Was wollen Sie von mir? – fragte er.
– Übersetzen Sie mir, was die Deutschen über die Ostfront schreiben.
Von da an verging kein Tag mehr, an dem wir uns nicht irgendwo im Kesselhaus trafen, um eine Zeitung zu lesen, die er aus der Fabrik mitbrachte. Als er hörte, wie ich die deutschen Berichte von der Ostfront kommentierte, wurde er freundlich, und dann begann er selbst zu kommentieren. Es verging einige Zeit, und auf der Grundlage der Zeitungsberichte stellte ich eine kurze Zusammenfassung der Lage an der Ostfront zusammen. Wir besprachen lange die Idee, diese Zusammenfassungen aufzuschreiben und im Lager zu verteilen. Wir beschlossen: Einmal pro Woche schreibe ich einen Entwurf, Pankratow redigiert ihn so, dass er zwar in verunstaltetem, aber für Russen verständlichem Russisch abgefasst ist. Dann schreibe ich ihn in fünf Exemplaren in einer mit der linken Hand gekritzelten Schrift ab und dann verteilen wir ihn in der Fabrik, in der sich neben Russen auch viele deutsche und französische Arbeiter aufhielten. So kamen diese Zusammenfassungen von der Fabrik ins Lager und gingen hier von Hand zu Hand.
Der Ermittler Michailow unterbrach mich:
– Wie hieß diese deutsche Zeitung?
– Meistens war es das Nazi-Presseorgan «Völkischer Beobachter».
Michailow fragte mich:
– Und welche Art von Wahrheit konnten Sie dieser Zeitung entnehmen?
– Zunächst hatten wir selbst keine Hoffnung, dass wir aus diesem Papier etwas Ähnliches wie die Wahrheit herausholen könnten. Doch als wir später unsere Zusammenfassungen mit den gelegentlichen englischen verglichen, die in unsere Hände gelangten, konnten wir uns davon überzeugen, dass wir nicht weit von der Wahrheit entfernt waren. Wenn die Deutschen schreiben, dass sie, um die Frontlinie zu begradigen, erst die eine und dann die andere Stadt verlassen, ist es in der Tat leicht zu erraten, dass sie sich einfach zurückziehen. Wenn sie schreiben, dass sie in den weißrussischen Wäldern mit mehreren Divisionen erfolgreich «Banditen»-Kommandos vernichten, bedeutet das, dass die Partisanenbewegung in Weißrussland das ganze Land erfasst hat. Ich erinnere mich, dass während der Kämpfe im Kursker Bogen, nachdem die Deutschen Orjol und Belgorod «verlassen» hatten und in den Tagen zuvor berichtet wurde, dass die «Sowjets» jeden Tag 2500 bis 3000 Panzer verlieren, plötzlich ein Artikel erschien, der ohne Änderungen und Kommentare unter unseren Leuten verteilt werden konnte. Der Artikel hieß „Woher haben die Sowjets so viele Panzer?“. Es stellte sich heraus, dass bereits in der Zeit des ersten Fünfjahresplans im Ural und in Sibirien große Industriekomplexe für die Herstellung von Traktoren, Mähdreschern und anderen Maschinen gebaut wurden. Und dass die Betriebsleiter schon vor der Inbetriebnahme der Unternehmen geheime Pläne hatten, um im Kriegsfall ohne jedes Aufsehen mit der Produktion bestimmter Rüstungsgüter zu beginnen. An die Front wurden sowohl Panzer als auch leistungsfähige mobile Werkstätten für deren Reparatur geschickt. Deshalb schossen Panzer, die von «tapferen deutschen Truppen» getroffen wurden, nach einiger Zeit wieder auf die Deutschen. Etwa ein schlechter Artikel?
– Und haben Sie jemals in Deutschland veröffentlichte Zeitungen in russischer Sprache gelesen?, fragte Michailow.
– Der Dolmetscher, den ich bereits erwähnt hatte, der Sohn irgendeines russischen Emigranten, arbeitete in der Fabrik und kam nur auf Anforderung ins Lager. Innerhalb eines Jahres brachte er etwa dreimal solche Zeitungen ins Lager, aber wir fanden darin nichts, was unserer Aufmerksamkeit Wert gewesen wäre.
– Fahren Sie fort, sagte der Chef von Michailow.
– Unter den Bedingungen des Lagers zog es die Menschen spontan zueinander hin. Es entstanden Gruppen, in denen Neuigkeiten und Meinungen ausgetauscht und Pläne geschmiedet wurden. Oft erfuhren unsere „Fünf“ von diesen Plänen. Und oft lehnten wir sie ab, weil sie schlecht durchdacht und gefährlich waren. Eine Katastrophe konnten wir jedoch nicht verhindern. Eine Frau aus unserem Lager streute Sand in eine Maschine in der Fabrik. Sie wurde schnell entdeckt. Am nächsten Tag wurden sie und vier ihrer Freundinnen aus dem Lager abgeholt. Wie uns offiziell mitgeteilt wurde, in ein Konzentrationslager zur Vernichtung.
Eines Tages erzählte mir einer von uns Fünf, dass er in der Fabrik einen alten deutschen Mann kennengelernt hatte. Er war während des Ersten Weltkriegs Kriegsgefangener in Russland und konnte ein wenig Russisch. Sein Sohn ist Kommunist und wenn er noch lebt, ist er irgendwo in einem Lager oder Gefängnis. Der alte Mann bot an, zwei Pistolen und ein Dutzend Schuss Munition mitzubringen. Ich riet ihm, die Waffen von dem alten Mann zu nehmen, sie aber nicht direkt ins Lager zu schaffen, da jeder beim Verlassen der Fabrik gründlich durchsucht wird. Ich kannte einen Ort, an dem die Waffen bis dahin versteckt werden konnten. Eine Woche später lagen unsere Pistolen bereits dort. Eine Frau half uns, sie aus der Fabrik zu schaffen. Frauen wurden nicht so rigoros durchsucht. Und mit Hilfe von speziell genähten Taschen trug sie sie problemlos unter ihrem Rock durch das Tor.
Wenig später taten sich zwei junge Männer zusammen, die an der Front gewesen waren, um eine Flucht zu organisieren. Nach langen Vorbereitungen und Gesprächen mit ihnen, teilte ich ihnen mit, dass sie Waffen erhalten werden. Wir sparten Brot (wir aßen es nicht selbst) für die Jungs für unterwegs, ich stahl so viele Kartoffeln, wie ich konnte. Die Jungs durften sich bis Polen in keiner Weise verraten. Eines Abends machte ich ein kleines Loch in den Stacheldraht und die Jungs verschwanden. Danach habe ich nie wieder etwas von ihnen gehört. Entschuldigen Sie, verliere ich mich nicht zu sehr in den Details des Lagerlebens?
– Sie werden uns anschließend schriftlich über diejenigen berichten, an die Sie sich gut erinnern, unabhängig davon, wie oder wer sie aus Ihrer Sicht waren, – sagte Michailows Chef. – Und nun beantworten Sie die Frage, wann haben Sie das Lager verlassen?
– 1943, zum Zeitpunkt des Durchbruchs der sowjetischen Truppen in den Kämpfen im Kursker Bogen.
– Wie nahm man im Lager die Nachricht von der deutschen Niederlage in Stalingrad auf?
– Fast alle haben sich gefreut, aber für sich. Noch dazu rief die faschistische Regierung Trauer um die gefallene Dreihundertausender Armee aus.
Auch dieser Fall kommt mir in den Sinn. Im Lager arbeiteten ständig zwei Zimmerleute, Deutsche, am Bau verschiedener zusätzlicher Räume. Ich musste mich oft mit ihnen verständigen. Aber das war mit großen Schwierigkeiten verbunden, denn weder ich noch sie beherrschten eine gemeinsame Sprache. Doch eines Tages, es war gerade in den Trauertagen, wurde ich plötzlich von dem Dolmetscher, den ich schon erwähnt habe, in einen dieser unfertigen Räume gebeten. Dort warteten die beiden deutschen Zimmerleute bereits auf mich. Der Dolmetscher teilte mir mit, dass sie meine Einstellung zu den Ereignissen in Stalingrad erfahren wollten. Ich war von dieser unerwarteten Frage verblüfft. Meinerseits fragte ich sie über den Dolmetscher, was sie von Hitlers Partei hielten. Der Dolmetscher lächelte und übersetzte meine Frage. Die Arbeiter sahen sich an und nickten aufmunternd mit dem Kopf. Einer von ihnen sprach lange zu dem Dolmetscher. Der wandte sich an mich:
– Wir verstehen Ihr Misstrauen, aber glauben Sie mir, wir würden gerne die Wahrheit wissen. Wenn Sie nicht offen sind, lohnt es sich nicht, dieses Gespräch fortzusetzen.
Nun, dachte ich, es kommt, wie es kommt. Dieses Gespräch hat fast eine Stunde gedauert, vielleicht auch länger. Wahrscheinlich habe ich noch nie so viel über meine Worte nachgedacht wie dieses Mal. Während der Dolmetscher übersetzte, dachte ich intensiv über den nächsten Satz nach. Einer der Arbeiter stand die ganze Zeit über an der angelehnten Tür Wache. Ich weiß nicht, wie lange dieses Gespräch gedauert hätte, wenn der Lagerführer nicht im Lager erschienen wäre. Der Dolmetscher drückte meinen Arm oberhalb des Ellenbogens und ging. Ich ging etwa eine Minute nach ihm.
– Nun gut. Jetzt erzählen Sie mir, wie Sie das Lager verlassen haben, bat Michailow.
– Eines Tages rief mich der Starosta Antonow zu sich. Aus irgendeinem Grund fühlte ich etwas Ungutes. Normalerweise suchte er mich selbst auf. Ich ging zu ihm. Ohne einleitende Worte verkündete mir Antonow: Die Deutschen wollen jemanden nach Hause in die Ukraine schicken. Ein oder zwei Personen aus jedem Lager. Sie organisieren ein Sammellager in Berlin, von wo aus diese Entsendung stattfinden wird. Ich schlage Ihnen diese Reise vor.
Ich wurde vom Ermittler Michailow unterbrochen:
– Sagen Sie mir ganz offen, hat man Ihnen angeboten, an Lehrgängen teilzunehmen?
– Sie reden umsonst so mit mir in diesem Ton, – antwortete ich. Ich erzähle Ihnen, was geschah. Und zur Charakterisierung dieses Lagers werde ich selbst kommen.
– Na, na, wir werden sehen, – brummte Michailow.
– Also. Ich fragte Antonow, was er wisse, außer dem, was er mir bereits gesagt hatte. Aber er versicherte mir, dass er nichts weiter wisse.
– Und wenn ich mich weigere? – fragte ich.
Antonow antwortete, dass es viele andere Interessenten geben würde. Fast jeder im Lager würde gerne nach Hause gehen. Ich bat ihn, mir bis morgen Zeit zu geben, um darüber nachzudenken. Am Abend versammelte ich ein paar Männer. Auch der alte Pankratow kam, der noch nie mit jemandem aus dem Lager gesprochen hatte. Wir haben lange darüber nachgedacht, was zu tun ist. Was hat das zu bedeuten? Vielleicht eine Art Sabotageschule? Kaum. Die Hitlerleute sind nicht so dumm, die Auswahl künftiger Spione dem Starosta eines Lagers für russische Zwangsarbeiter anzuvertrauen. Wahrscheinlich wollen sie wirklich einige Ukrainer in ihr Heimatland schicken. Aber warum? Nach reiflicher Überlegung kamen alle zu einem Schluss. Sie müssen zeigen, dass den Neuankömmlingen in Deutschland nichts droht. Aber so einfach werden die Nazis niemanden losschicken. Also werden in Berlin die Gehirne „gewaschen». Diese Art von Kursen wird es wahrscheinlich sein. Und in der Ukraine werden sie es nicht dabei belassen, sie werden sie für die Agitationsarbeit nutzen. Was also tun? Fahren oder nicht fahren? Es kam die Frage auf, warum ich ausgewählt wurde. Aber hier gab es keine Unstimmigkeiten. Alle wussten um die angespannten Beziehungen zwischen Antonow und mir und schlossen daraus, dass er mich einfach loswerden wollte. Es gab viele Meinungen zu meinem Weggang. Einer sagte, ich solle auf jeden Fall gehen, es wäre einfacher, den Deutschen zu entkommen, aber es wäre schwierig, an die Partisanen heranzukommen, ich könnte sogar als Spion sterben. Ein anderer stimmte zu, dass es notwendig sei, zu gehen, aber es sei unmöglich, von hier aus vorherzusagen, was man in der Ukraine tun und wohin man gehen müsse. Dort wird man je nach den Umständen handeln müssen. Pankratow merkte an, dass man uns vielleicht nicht in die Ukraine schicken wird, weil die Unseren die Ukraine befreien werden, während man sich in Berlin mit uns beschäftigt, und dann wird man uns nirgendwo hinschicken.
Berlin – Sammellager für Ukraine-Rückkehrer
Ich wandte mich zum Ermittler Michailow um und sagte:
– Mir war also klar, dass es sich um Schulungen handeln würde, und dennoch habe ich meine Bereitschaft erklärt, sie zu besuchen. Sind Sie mit dieser Interpretation zufrieden?
– Vollkommen. Michailow lächelte.
– Folglich war es nicht mein Verdienst, dass es sich letztlich nicht um Schulungen handelte.
– Keine Schulungen? Was war es dann?
– Ich denke, Sie können gut verstehen, dass es mir nicht leichtgefallen ist, eine solche Entscheidung zu treffen. Doch noch schwieriger war es, während des Krieges die Zeit hinter den feindlichen Linien abzusitzen. Und als sich die Möglichkeit bot, in mein Heimatland zu gehen, auch wenn es besetzt war, war es schwer, dort zu bleiben. Andererseits musste ich, wenn ich am Leben blieb, die Tatsache meines Aufenthalts in Deutschland auf jede erdenkliche Weise vor meinen Landsleuten verbergen, und das war nicht einfach. Und falls sie es herausfinden, wirst du nie beweisen können, dass du kein Lump bist. Richtig?
– Na gut, fahren Sie fort, brummte Michailow.
– Ich wurde von demselben Fabrikdolmetscher nach Berlin gebracht. Ich weiß heute nicht mehr, welche Straße es war.
– Und könnten Sie auf der Karte auf diesen Ort zeigen? – fragte Chef Michailow.
– Wahrscheinlich, ja.
Vor mir wurde ein Stadtplan von Berlin ausgebreitet. Wahrscheinlich war er schon vorbereitet. Sie wussten also mehr über mich, als ich vielleicht über mich selbst wusste. Nachdem ich einige Minuten über der Karte gehockt hatte, wies ich auf den Ort dieser sogenannten Schulungen hin.
– Das ist richtig. … Erzählen Sie mir mehr darüber, – bat der Chef Michailow.
– Durch das Tor betritt man einen geräumigen Innenhof, der auf beiden Seiten von den leeren Wänden der benachbarten dreistöckigen Häuser umgeben ist. In der Mitte des Hofes stand ein kleines Gebäude. Dahinter gab es ein Tor und einen Ausgang zu einer Parallelstraße. In dem Gebäude wurden uns mehrere Räume mit zweistöckigen Holzbetten zugewiesen, wie im Lager. In anderen Räumen befanden sich das Büro, die Kantine und der Abstellraum. Es gab einen weiteren geheimnisvollen Raum mit Stühlen und einem Tisch. Es war logisch anzunehmen, dass hier Vorträge zu antisowjetischen Themen gehalten werden sollten. Doch nichts dergleichen wurde beobachtet. Überhaupt herrschte hier, was die Lektüre betraf, eine große Unklarheit. Alle zehn Tage gab es eine Boulevardzeitung in russischer Sprache, und es gab zwei Bücher, die im Prinzip niemand gelesen hat. Eines davon handelte von Zionisten. Ich habe es nicht einmal durchgeblättert, weil es zu faschistischen Zeiten veröffentlicht wurde. Aber das zweite Buch habe ich von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Es war religiöser Natur und wurde 1923 veröffentlicht. Ich hatte zu meiner Zeit eine Menge solcher Literatur gelesen, einschließlich natürlich der Bibel.
Im Lager kam ich in der zweiten Tageshälfte an. Zum Abend gab es eine dünne Suppe ohne Brot. Brot gab es überhaupt nur zum Frühstück – 200 Gramm für den ganzen Tag. Morgens Kaffee, mittags Suppe, ein bisschen besser als im Lager. Es waren etwas mehr als fünfzig Leute. Mit uns wurde keinerlei Unterricht abgehalten, die meiste Zeit wussten wir nicht einmal, was wir tun sollten. Die antisowjetische Propaganda bestand nur aus Folgendem: Jeden Tag kam zu uns der Lagerkommandant zum Mittagessen, ein alter Mann in den Sechzigern, von Schreiberg. Er setzte sich an einen exponierten Platz, mampfte genüsslich seine Suppe und hielt danach eine «feurige» Rede an die Lagerinsassen. Bezeichnenderweise – auf Russisch. Im Allgemeinen handelte es sich um die Beschimpfung derjenigen, die vor ihm saßen: nicht richtig saßen, nicht richtig guckten, usw. Am Ende beschimpfte er alle Russen zusammengenommen. „In Russland läuft man sogar in der Stadt mit Lappen herum. Ich habe es selbst gesehen. Und in euren Kolchosen schlafen alle unter einer Decke. Und wer Milch trinken will, geht in den Kuhstall und melkt die Kuh selbst.
Jemand erzählte mir, dass dieser von Schreiberg vor der Revolution als Agent in Russland gelebt hatte. Jetzt war er ein seniler alter Mann, der nicht mehr bei Verstand war. Seine zehnminütigen Reden waren so identisch, dass – hätte man eine davon auf eine Grammophonplatte aufgenommen – man sie täglich hätte als Dessert abspielen können, ohne von Schreiberg selbst. Obwohl es im Lager sehr unterschiedliche Menschen gab, darunter auch antisowjetisch gesinnte, nervte dieser nachmittägliche Blödsinn ausnahmslos alle.
– Woran können Sie sich außer an von Schreibergs „Reden“ noch erinnern? – fragte Michailow.
– In den zweieinhalb Monaten, die ich in Berlin verbrachte, wurden wir nur von zwei Personen besucht, die von Schreiberg bei seinen Nachmittagsauftritten vertraten. Während dieser zwei Tage war von Schreiberg gezwungen zu schweigen. Nach den fünfzehnminütigen Reden dieser Gäste war keinerlei Diskussion erlaubt. Der erste Gast stellte sich uns als Mitarbeiter des Außenministeriums vor. Er sagte uns, dass Deutschland gezwungen gewesen sei, die Sowjetunion anzugreifen, da die Sowjetunion sonst in Deutschland eingefallen wäre. Der andere war ein Deserteur aus der sowjetischen Armee und erzählte uns von der Lage an der Front. Er erklärte, dass sich die Deutschen zurückziehen mussten, weil sie wegen der verwesenden Leichen der sowjetischen Soldaten keine Luft mehr bekamen. Es war nicht leicht, diese erniedrigende Lüge zu ertragen.
Ich erwähnte bereits, dass es im Lager freie Zeit im Überfluss gab. Die Menschen fühlten sich zueinander hingezogen, aber die Angst, auf einen Provokateur oder Spitzel zu treffen, war stärker. Diejenigen, die gegen die Sowjetunion eingestellt waren, hatten ebenfalls Angst, denn wir hörten immer mehr Gerüchte, dass die deutsche Armee eine vernichtende Niederlage erlitt. Die beliebtesten Themen drehten sich um alles, was mit Essen zu tun hatte. Die mit nichts beschäftigten Menschen hörten unwillkürlich auf ihren Appetit und den Zustand ihrer Bäuche.
Das Lager war nur schwach bewacht. Es gab einen Mann am Tor, der aus den Reihen der Lagerinsassen bestimmt wurde. Die meisten dieser «Wächter» schenkten den mutigen Männern, die es wagten, in Berlin herumzuwandern, keine Beachtung. Es war unmöglich, etwas zu essen zu besorgen, denn die Geschäfte gaben alles auf Karten aus. Wir hatten weder Karten noch Geld. Man dachte, die Ostarbeiter bekämen Lohn, aber den gab es nur auf dem Papier. Der Betrag, der uns für den Schutz (vor wem?), die Verpflegung und den Aufenthalt im Lager einbehalten wurde, war um ein Vielfaches höher als der Wert der uns ausgezahlten Karten. Mit anderen Worten, wir waren also auch noch Schuldner.
Ich erfuhr, dass vor meiner Ankunft dreißig Menschen aus diesem Lager in die Ukraine geschickt worden waren. Abgesehen von den «gigantischen» Bemühungen dieses Kretins von Schreiberg hatte man mit ihnen keinerlei Vorbereitungen durchgeführt. Nun war nicht mehr die Rede davon, jemanden in die Ukraine zu schicken, denn die Deutschen mussten sich immer weiter zurückziehen. Es stellte sich die Frage: Wohin mit uns? In die Lager zurückschicken, in denen wir vorher waren, oder in ein Lager für die Ostarbeiter.
Ich lernte die Menschen in diesem bunten Lager immer besser kennen. Nach meinen Beobachtungen erlebten alle einen Zustand völliger Niedergeschlagenheit. Die einen deprimierte es, dass sie nicht in die Ukraine kommen würden, andere sorgten sich um ihre eigene Haut, weil sie Angst vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Deutschland hatten. Diese logen sich vor, dass die deutsche Armee unbesiegbar sei. Ich verspürte ein überwältigendes Verlangen, die einen zu unterstützen und die anderen zu verurteilen. Ich vergaß zu oft, dass es unter uns Gestapo-Agenten geben konnte und wahrscheinlich auch gab. Davon konnte ich mich bald aus eigener Erfahrung überzeugen, denn im September 1943 wurde ich von der Geheimpolizei abgeholt und verhaftet.
Berlin-Alexanderplatz – Gestapogefängnis

– Alles Weitere über Sie ist uns aus den erbeuteten Gestapo-Archiven und von den Aussagen derer bekannt, mit denen Sie im Gefängnis und im KZ waren. Beantworten Sie dennoch einige unserer Fragen.
– Warum haben Sie nicht auf den vernünftigen Rat von Pankratow gehört und sich geweigert, nach Berlin zu gehen? Pankratow hat Sie doch gewarnt, dass der Zeitpunkt nicht mehr fern sei, an dem die Deutschen Sie nicht mehr in die Ukraine schicken konnten?
– Erstens habe ich schon gesagt, dass es mir schwerfiel, in Neubrandenburg zu sitzen, während im Osten der Krieg herrschte. Zweitens habe ich nicht mit einem so schnellen Zusammenbruch von Hitlers Kriegsmaschine gerechnet und geglaubt, dass ich noch in die Ukraine kommen würde. Ich möchte darauf hinweisen, dass es zu diesem Zeitpunkt noch keine zweite Front gab und die sowjetischen Truppen allein gegen Nazideutschland kämpfen mussten, das das industrielle Potenzial von ganz Europa mobilisiert hatte. Außerdem wartete ich mit Sorge, wie sich die Türkei und Japan verhalten würden, gegen die wir wahrscheinlich beträchtliche Teile unserer Truppen abgezogen hatten. Ich rechnete nicht mit einer vollständigen Niederlage der Nazis vor Ende 1945.
– Wissen Sie, wer Sie an die Gestapo verraten hat?
– Ich weiß es nicht. Vielleicht Oparin. Da war so einer. Er stellte sich als Ingenieur vor, Sohn des Akademiemitglieds Oparin. Er hörte oft bei meinen Gesprächen zu, und seine ablehnende Haltung gegenüber allem Sowjetischen war aus einzelnen seiner Äußerungen ersichtlich.
– Ja, es gab einen solchen Oparin, nur war er weder Ingenieur noch der Sohn eines Akademikers. Er war ein einfacher Handwerker, der übrigens wegen Betrugs im Gefängnis gesessen hatte. Aber nicht er hat Sie verraten. Es war Irschinskij. Erinnern Sie sich an ihn? Er wurde noch vor dem Krieg von der Gestapo rekrutiert.
-Ja, natürlich erinnere ich mich an Irschinskij. Er sprach nie über seine Weltanschauung, aber er versuchte immer, mich zum Reden zu bringen. Wo ist er jetzt? Im Gefängnis? – fragte ich ihn.
– Nein. Er dient uns und ist im Moment dort, wohin man ihn befohlen hat. Und jetzt sagen Sie mir, welche Fehler, um es milde auszudrücken, haben Sie in dieser Zeit gemacht?
– Heute ist es leicht, die eigene Vergangenheit zu analysieren. Fehler im Nachhinein zu finden. Aber damals schien es mir, dass ich alles richtig machte. Ich ging zu dem Bahnwärterhäuschen, in dem die Deutschen waren, anstatt bis zum Einbruch der Dunkelheit im Mais zu liegen. Aber wegen meiner Gehirnerschütterung konnte ich nicht klar denken, und das einzige, woran ich dachte, war, an Wasser zu kommen. Und wenn ich mich nachts dieser Hütte genähert hätte, hätten sie mich einfach erschossen, denn weglaufen konnte ich nicht. Um den Deutschen nicht in die Hände zu fallen, hätte ich mich bei einigen alten Leuten in der Ukraine niederlassen können. Es war möglich, nach einer solchen Gelegenheit zu suchen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie ich zu jener Zeit diese lange Zeit hätte einfach absitzen können. Und überhaupt, obwohl ich nicht an eine Vorbestimmung glaube, fühlte ich mich von Anfang an zum Untergang verurteilt. Nach meiner Verhaftung dachte ich, dass mein Schicksal besiegelt sei, denn ich wusste, dass es nur zwei Wege aus den faschistischen Mauern gab: entweder die Erschießung im Gefängnis oder ein langsamer Tod in einem Konzentrationslager.
– Warum haben Sie sich in diesen Lagern keine Notizen gemacht, um sie an uns weiterzugeben, falls Sie überleben sollten?
– Solche Notizen zu behalten, wenn man die Säuberungen in den Gefängnissen und Lagern überstanden hat, war unmöglich. Ich habe einige meiner Notizen einer Frau aus diesem Sammellager gegeben, aber sie enthielten nichts von Bedeutung.
– Wie lautete der Familienname dieser Frau?
– Ich weiß es nicht mehr.
Der Chef von Michailow blätterte einer Mappe. Dann sagte er:
– Ihr Familienname ist Krawtschenko. Sie hat auch etwas über Sie geschrieben. Wesentliches stand nicht in Ihren Notizen, aber etwas war für uns dennoch nützlich.
– Wo ist diese Krawtschenko jetzt? – fragte ich.
– In der Heimat, in der Region Odessa. Wenn Sie sich dafür interessieren, erfahren Sie die genaue Adresse später. Und jetzt, sagen Sie mir, mit wem hatten Sie außerhalb dieser unglückseligen Schulungen noch Kontakt?
– Mit niemandem.
– Und zu wem sind Sie so oft gegangen, wenn Sie das Lager verlassen haben?
– Ach, darum geht es …. Auch das wissen Sie also. Krawtschenko hat Ihnen das bestimmt aufgeschrieben.
– Nicht nur Krawtschenko.
– Ja, im Laufe einer Woche habe ich das Lager mehrmals verlassen, wobei ich die Tatsache ausgenutzt habe, dass wir uns selbst bewacht haben. Aber das war keine kluge Idee. Ein paar Häuserblocks von uns entfernt, am Ufer der Spree, befand sich nämlich ein kleines Lager für russische Kriegsgefangene, von dem aus sie jeden Tag in irgendeine Fabrik gebracht wurden. Ich beobachtete dieses Lager mehrere Tage lang von verschiedenen Positionen in dem naiven Glauben, dass ich mit ihnen in Kontakt kommen könnte. Das ging so lange ich die Aufmerksamkeit nicht auf mich lenkte. Beim letzten Mal folgte mir ein dicklicher Mann in Zivil drei Blocks lang, bis er mich aus den Augen verlor.
Das Gefängnis im Polizeipräsidium am Alexanderplatz nahm einen ganzen Block mit fünfstöckigen Gebäuden ein. An meinem ersten Tag wurde ich in eine riesige Zelle eingewiesen, in der man nur stehen konnte. Die Luft war stickig, es stank, es gab keine Lüftung. Aber die Tür öffnete und öffnete sich, und unsere Zelle füllte sich mit immer mehr Häftlingen. Bei Einbruch der Dunkelheit, als einige von ihnen zum Verhör vorgeladen wurden, wurde die Zelle etwas leerer. Ich verbrachte die Nacht an der Wand, zusammengerollt auf dem Zementboden. Verschiedensprachige Reden, Flüche und sogar Raufereien machten es mir schwer zu schlafen. Und nachdem ich einen Tritt gegen den Kopf bekommen hatte, verbrachte ich den Rest der Nacht im Sitzen. In der Zelle befanden sich offensichtlich auch Kriminelle.
Am nächsten Tag wurde ich vom Erdgeschoss in den fünften Stock in eine große Zelle mit zweistöckigen nackten Holzkojen verlegt. Jeden Morgen brachte man einen Korb mit Brot, je nach Anzahl der Häftlinge in Scheiben geschnitten, zu je 150 Gramm, und Ersatzkaffee in die Zelle. Mittags gab es eine dünne Suppe, abends auch. Die lange Zeit in diesem Gefängnis verbrachte ich in verschiedenen Zellen, aber alle glichen einander wie zwei Wassertropfen. Der Zellenchef war in der Regel ein deutscher Krimineller. Er sprach nie mit den Gefangenen. Seine Zunge wurde durch einen Gummiknüppel ersetzt, den er immer unter der linken Achselhöhle hielt. Doch die Häftlinge selbst hinderten ihn daran, von seinem Recht Gebrauch zu machen, ihn zu missbrauchen. Ich war einmal selbst Zeuge eines derartigen Vorfalls. Der Zellenchef wandte sich an einen Jugoslawen, nachdem er ihm zuvor mit dem Knüppel in die Seite gestoßen hatte. Der Jugoslawe überlegte nicht lange, riss dem Aufseher seine «furchtbare» Waffe aus der Hand und warf sie in eine Ecke der Zelle. Dem Zellenchef blieb nichts anderes übrig, als kleinlaut in die Ecke zu gehen, um seinen Schlagstock zu suchen.
In diesem Gefängnis, in Zellen wie der unseren, saßen Menschen verschiedener Nationalitäten: aus der Sowjetunion, aus Polen, Jugoslawien, in geringerer Zahl Deutsche und Franzosen, meist Mitglieder der antifaschistischen Bewegung. Ohne Sprachkenntnisse war es sehr schwierig, sich zu verständigen, aber wir wollten uns unterhalten, und so wurde Deutsch die internationale Sprache in unserer Zelle, denn jeder kannte zwei oder drei Dutzend deutsche Wörter. Ein Hofgang wurde uns nie gewährt, wahrscheinlich weil das Gefängnis überfüllt war. Aber jede Woche wurden wir einer sanitären Behandlung unterzogen. Während sie uns zur Dusche brachten, wurden unsere Kleider in eine Gaskammer gesteckt, wonach sie bis zum Brechreiz stanken. Die Wände und Böden der Zelle wurden mit einer Art Lösung zum Ersticken behandelt, die mir Kopf- und Lungenschmerzen bereitete.
Von Zeit zu Zeit wurden die Häftlinge zu Verhören gerufen, nach denen sie entweder so zerschlagen zurückkehrten, dass sie nicht mehr allein zu den Holzkojen gehen konnten, oder sie kehrten überhaupt nicht mehr zurück. Wohin diese Menschen gebracht wurden, ob zur Erschießung oder in ein Konzentrationslager, wussten wir nicht. Wir hatten so viel über Konzentrationslager gehört, dass es schwer zu sagen war, wovor wir mehr Angst hatten, vor dem Konzentrationslager oder der Erschießung. Aus den Erzählungen der Gefangenen wussten wir, dass es keinen Ausweg aus diesem Gefängnis gab. Aber sie hielten einen auch nicht lange hier fest. Deshalb wartete jeder von uns darauf, dass sein Schicksal von Tag zu Tag entschieden wurde.
Aber nichts geschah. Einige Gefangene wurden weggebracht, andere, meist Bürger der Sowjetunion, die in Deutschland oder in den okkupierten Gebieten verhaftet worden waren, wurden hierhergebracht. Die Menschen erzählten wenig über sich selbst. Meistens erinnerten sie sich an die Vorkriegszeit.
Ich hatte noch nie so viel freie Zeit. Ich dachte ständig an die Zeit vor und während des Krieges. Manchmal erschien mir mein Leben sinnlos, ein einziger Fehler. Obwohl, wenn ich es analysierte, bereute ich dennoch nichts: Ich hatte niemanden verletzt, niemandem etwas zuleide getan. Möglicherweise habe ich nichts Herausragendes oder Heldenhaftes getan, aber ich war mir sicher, dass ich es zweifellos getan hätte, wenn die Umstände es erfordert hätten. Sehr oft habe ich auch über die Momente gegrübelt, in denen ich es für möglich hielt, eine Flucht aus Deutschland zu riskieren. Obwohl die Erfahrung derjenigen, die mit mir in derselben Zelle saßen, zeigte, dass eine solche Flucht zum Scheitern verurteilt war. Denn jedes beliebige deutsche Kind konnte einen verraten und sofort losrennen, um den Erwachsenen zu berichten, was es gesehen hatte. Ich dachte auch an meine Familie. Daran, dass meine Frau und meine drei Kinder irgendwo im fernen Grosny lebten. Ich war sicher, dass sie in Sicherheit waren, denn ich wusste, dass die Deutschen die Stadt nicht eingenommen hatten. Es tat mir leid, dass sie nie erfahren würden, was mit ihrem Vater geschehen war. Manchmal dachte ich, dass es so vielleicht am besten war. Immerhin würden sie denken, dass ihr Vater einen tapferen Tod gestorben ist, indem er mehr als ein Dutzend deutsche Invasoren getötet hat.
Immer häufiger waren die Sirenen für Fliegeralarm zu hören. Es wurde bekannt, dass es sich um britische Aufklärungsflugzeuge handelte. Einer der Neuankömmlinge erzählte uns, dass unzählige Flugzeugstaffeln vier Nächte hintereinander Hamburg bombardiert hätten. Er erzählte uns auch, dass andere Industriestädte im Westen Deutschlands ebenfalls angegriffen worden waren. Alle rechneten damit, dass früher oder später auch Berlin an der Reihe sein würde.
Nach einiger Zeit begannen regelmäßige Angriffe. Meistens nachts. Wenn es elf Uhr wurde, ertönte der Fliegeralarm. Gefolgt vom Feuer der Flugabwehrkanonen und den Explosionen der von den Flugzeugen abgeworfenen Bomben. Und so ging es jeden Tag: Ein Geschwader zog vorbei, warf seine tödliche Ladung ab und dann war es wieder still. Die Bomben fielen mal weiter mal näher zum Zentrum. Es gab Optimisten, die behaupteten, die Amerikaner wüssten, wo sich das Gefängnis im Polizeipräsidium befand und sie würden uns nicht bombardieren. Die Gefängniswärter begaben sich bei Alarm in den Luftschutzkeller, und die Gefangenen blieben auf allen Etagen in ihren Zellen eingeschlossen.
Es kam das Gerücht auf, die Briten und Amerikaner hätten in Nordfrankreich eine zweite Front eröffnet. Die Flugzeuge wurden wahrscheinlich auch dort gebraucht, so dass die Angriffe auf Berlin recht selten wurden.
Eines Tages brachten sie einen Panzertechniker in unsere Zelle. Ein Russe. Er erzählte uns, dass er mit seiner Frau zusammen verschleppt wurde. Sie wurde in demselben Gefängnis als Geisel gehalten. Man habe ihm einen Job in einer Panzerfabrik angeboten und wenn er ablehne, würden er und seine Frau erschossen werden.
– „Wollen Sie nicht für sie arbeiten? – fragte ich.
– Nein, natürlich nicht.
– Und gegen sie kämpfen?
– Und wie?
– Es ist schwierig für mich, Ihnen etwas zu sagen, solange Sie hinter Gittern sind. Aber unter anderen Bedingungen ist ein Kampf möglich. Ein paar Tage später wurde er vorgeladen und kam nicht mehr zurück.
Die dicken Gitterstäbe an den Fenstern hinderten die Luft nicht daran, in die Zelle zu gelangen. Es war sogar möglich, das Fenster zu öffnen. Eines Nachts hörten wir am Fenster, wie eine Frau aus dem Gebäude gegenüber ein russisches Lied wunderschön und wohlklingend sang. Irgendwo heulten Luftschutzsirenen, Bomben explodierten, doch sie sang weiter: «Mein Land, mein Moskau, du bist mein Liebstes». Sie sang verschiedene, allen Russen bekannte Lieder, bis die Sirenen Entwarnung gaben. Fast alle Insassen unseres Gefängnisses hörten sie. Vier Nächte hintereinander hörten wir ihre Stimme. Und dann sang sie nicht mehr. Wir vermissten sie furchtbar. Selbst in den kältesten Nächten öffneten wir das Fenster in der Hoffnung, ihre Stimme zu hören.
Die Wachen, die ständig auf dem Korridor waren, wechselten nach ihren Schichten. Eines Tages erschien ein neuer Wärter, ein alter Mann in den Sechzigern. Wenn er die Zelle für diejenigen öffnete, die uns Kaffee oder Brei brachten, schaffte er es, unserem Zellenchef einige Neuigkeiten zuzuflüstern. Von da an waren wir relativ gut über die Lage an der Front informiert und erfuhren von den Ergebnissen der letzten Angriffe auf Berlin.
Eines Tages erschien ein Mann in Zivil an der Tür unserer Zelle und rief laut: „Nikolaus!“
– Hier! – antwortete ich und ging auf ihn zu. Also war ich nun an der Reihe. Mein Herz krampfte sich zusammen. Noch nie war jemand nicht traumatisiert von einem Verhör zurückgekehrt, moralisch und physisch. Im Handumdrehen hatte mir der Mann in Zivilkleidung Handschellen angelegt. Das war neu. Aus unserer Zelle war noch nie jemand mit solchen Vorsichtsmaßnahmen zum Verhör abgeführt worden. Wir gingen die Treppe hinunter und überquerten den Innenhof. Dann das Büro des Vernehmungsbeamten. Er merkte schnell, dass man ihm versehentlich einen anderen gebracht hatte. Ich wurde in meine Zelle zurückgebracht. Es folgte ein neuer Aufruf: «Mario Nikolaus!!!»
Ohne ein Wort zu sagen, ging ein großer junger Mann, den wir für einen Franzosen hielten, auf den Ausgang zu. Es wiederholte sich das Anlegen der Handschellen. Der Franzose verabschiedete sich mit einer Geste von uns, und sie gingen. Er kam nicht mehr zu uns zurück. Wer war dieser Nikolaus, der deutsch, französisch, spanisch, englisch und italienisch sprach und mit dem wir eine gemeinsame Sprache fanden, obwohl ich keine dieser Sprachen beherrschte? Später hieß es, er war ein Spanier, der Verbindungen zum deutschen Untergrund hatte. Aber das war später…
Kurz bevor uns wieder irgendein Gebräu gebracht werden sollte, öffnete sich die Tür und ein Mann wurde mit großer Kraft hineingestoßen. Er stand wieder auf, rannte zur Tür und begann zu fluchen. Doch die Tür wurde vor ihm zugeknallt. Der Zellenchef kam auf ihn zu, packte ihn am Kragen und führte ihn zu einer freien Koje.
Plötzlich stürzte mein Kojengenosse, ein Arbeiter aus Charkow, zu mir und flüsterte: „Sie haben einen Provokateur eingeschleust. Ich kenne ihn. Und er kennt mich. Seinetwegen haben viele Menschen gelitten.“ Wir informierten alle in unserer Zelle, auch den Zellenchef. Während des Abendessens kam dieser zu mir und sagte mir, ich solle auch für meinen Nachbarn etwas zu essen holen. In der Zwischenzeit machte der eingeschleuste Provokateur aktiv Bekanntschaft mit einigen Häftlingen und verhielt sich so, als sei sein Aufenthalt in der Zelle für ihn eine ganz normale Sache. Alle schauten sich an und flüsterten miteinander. Die Jugoslawen hatten bereits begonnen, den Zellenchef zu «bearbeiten». Eine Stunde nach dem Abendessen stand mein Nachbar von der Koje auf und trat ganz nah an den Provokateur heran: «Meine Hochachtung an Kalenom! Dort sind wir uns begegnet, du Widerling!“
Zuerst sprang er überrascht zurück, dann warf er sich mit aller Kraft gegen die Zellentür. Aber die Jungs waren schon zur Stelle. Sie warfen ihn zu Boden, zerrten ihn in eine entfernte Ecke, und nach einer Weile war er tot. Sie nahmen ihm den Gürtel ab und hängten den «Selbstmörder » daran auf.
Diese Nacht war besonders hart. Nach dem Fliegeralarm rollte eine Welle von Flugzeugen nach der anderen über Berlin und den Alexanderplatz. Schon nach wenigen Minuten verstummte die niedergehaltene Flugabwehrartillerie. Die Bomben explodierten erst irgendwo in der Ferne, dann immer näher und näher. Alle lauschten in unglaublicher Spannung dem immer lauter werdenden Heulen. Von Zeit zu Zeit erschütterte ein furchtbares Grollen das ganze Gefängnis. Der an den Gittern des Fensters aufgehängte «Selbstmörder» schien sich zu bewegen. Gegen Ende der Nacht hörte dieser Totentanz endlich auf. Der Zellenchef rief einen Wärter, und zu zweit schleppten sie den Körper des «Selbstmörders» auf den Korridor hinaus.
Wenig später erfuhren wir, dass während des nächtlichen Bombardements drei Bomben in einem der Gefängnisgebäude eingeschlagen waren. Es gab viele Tote und Verwundete. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür unserer Zelle und vierzig Häftlinge, die den Bombenangriff überlebt hatten, wurden hereingebracht. Am Ende des Tages wurden sie auf dem Hof in Autos mit geschlossener Ladefläche verladen und irgendwohin gefahren. Gegen Ende der nächsten Nacht, in den frühen Morgenstunden, wurden wir erneut durch Fliegeralarm geweckt. Es gab jedoch keine Bombardierung. Nur einzelne Flugzeuge kreisten hoch am Berliner Himmel. Berlin ging in Rauch und Flammen unter.
Mein Nachbar, der Arbeiter aus Charkow, fragte mich, was ich von dem «Selbstmord» des Provokateurs halte. Ich antwortete, dass ich unter den gegebenen Umständen keine andere Möglichkeit sah. Aber diese Geschichte sollte man sich erinnern. Denn am Ende des Krieges werden die „Heldentaten“ dieses Provokateurs wahrscheinlich bekannt werden. Und wenn es jemandem von uns gelingt, zu überleben … Mein Nachbar dachte darüber nach und sagte: „Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns überleben wird. Wir werden unter den Trümmern dieses Gefängnisses sterben. Bald wird ganz Berlin in Trümmern liegen.“ Er sollte Recht behalten. Mit angehaltenem Atem warteten wir, was uns die neue Nacht bringen würde.
Um 23.00 Uhr heulte die Sirene erneut, gefolgt von den Schüssen der Flugabwehrkanonen, gefolgt von dem Heulen der Flugzeuge und den Explosionen der abgeworfenen Bomben. Anhand der Geräusche konnten wir die Flugrouten der Geschwader bestimmen. Während der Bombardierung zogen sich alle Einwohner Berlins für die Nacht in die Keller und Bunker zurück. Nur die Gefangenen des Zentralgefängnisses blieben in ihren Zellen und warteten auf ihr Schicksal. Wir hofften, dass die britischen Piloten unseren Standort kannten, aber wahrscheinlich wussten sie, dass sich zwei Blocks von uns entfernt die wichtigsten Einrichtungen der Gestapo befanden. Wir wollten über nichts nachdenken oder reden, denn jeder lebte mit den Eindrücken der vergangenen Nacht und wartete auf die der neuen. Das infernalische Heulen und Pfeifen der herannahenden Bomben machte die Menschen wahnsinnig. Das Gefängnisgebäude bebte, als hätte es kein Fundament mehr. Die Schwächeren warfen sich gegen die Fenstergitter und begannen verzweifelt zu schreien. Nach der Entwarnung hörte man Weinen.
Nach einer dieser Nächte wurden zwei Personen aus unserer Zelle abgeholt, weil sie offensichtlich den Verstand verloren hatten. Viele wollten sogar, dass man sie zum Verhör vorlud, um eine Hinrichtung an Ort und Stelle zu provozieren, nur um diese nächtliche Folter zu vermeiden.
Am Ende des Winters 1943/44 wurde Berlin mehrere Nächte lang nicht bombardiert, obwohl dennoch einzelne Flugzeuge auftauchten. Nach dieser kurzen Pause begannen die Bombardierungen allerdings wieder zuzunehmen. Die Flugzeuge zogen Welle um Welle über den südlichen Teil der Stadt und verwandelten alles auf ihrem Weg in Trümmerhaufen. Jetzt waren wir an der Reihe. Die Explosionen erschütterten das Nachbargebäude unseres Gefängnisses, und die Schreie der Eingeschlossenen erfüllten das Viertel. Nach einer Weile wurde auch unsere Zelle Explosionen erschüttert. Die Nachbarzelle wurde völlig zerstört, und in unserer Zelle brach die angrenzende Wand heraus. Dann versuchten wir, die Zellentür mit Hilfe der schweren Kojen aufzubrechen. Sie hielt den starken Schlägen nicht stand und brach in sich zusammen. Alle Häftlinge stürmten nach unten. Zu dieser Zeit wurde der Fliegeralarm aufgehoben. Die Häftlinge aus den verschiedenen Zellen drängten sich im Innenhof des Gefängnisses. Zwei Maschinengewehrschützen standen neben dem Metalltor. Zu ihren Füßen lagen bereits mehrere Leichen von Häftlingen, die versucht hatten, die Gefängnistore zu stürmen. Wir konnten das Stöhnen der Verwundeten unter den Trümmern des Gefängnisgebäudes hören. Als der Morgen anbrach, kamen geschlossene Lastwagen, in die alle Gefangenen wahllos hineingeschoben wurden. Wir wurden irgendwohin außerhalb der Stadt gebracht. In einem Wald wurden wir ausgeladen und in ein kasernenartiges Gebäude gebracht. Ich fand mich in einer sehr großen Zelle ohne Kojen wieder. Nur der Boden war mit Stroh ausgelegt. Alle, die aus unserem Gefängnis in diese Zelle gekommen waren, warfen sich auf das schmutzige Stroh, in der Hoffnung, trotz des Hungers, der uns alle quälte, einschlafen zu können.
In einem Lager außerhalb von Berlin
Endlich wurden die Nächte ruhig. Nur manchmal erreichten uns entfernte Bombenexplosionen. Wir waren sicher, dass uns hier im Wald, weit weg von Berlin, niemand bombardieren würde. Es kam uns sogar so vor, als hätten uns die Nazis vor dem drohenden Tod unter den Trümmern der Stadt gerettet.
Der Abtransport der Häftlinge nach der Bombardierung erfolgte so spontan, dass es für die Gestapo praktisch unmöglich war, festzustellen, wer wer war. Später wurde man sich dessen bewusst und begann, die Namen aller Häftlinge aufzuschreiben und zu vermerken, wer in welcher Zelle saß. Das gab einigen die Möglichkeit, nach denjenigen benannt zu werden, die unter den Trümmern des Berliner Gefängnisses starben und deren „Schuld“ vor Hitlers Regime weniger bedeutsam war. Ich lernte neue und interessante Menschen kennen. Näher standen mir diejenigen, die auch unter diesen Bedingungen ihre Geistesgegenwart nicht verloren haben. Aber natürlich erzählte niemand ausführlich von sich. Es war nicht üblich, zu fragen und zu antworten, weswegen man im Gefängnis war, wer man war, ob man Kommunist war. Obwohl ich immer viele Gesprächspartner hatte und es viel zu reden gab, über die Unausweichlichkeit unseres Todes sprach niemand. Ganz im Gegenteil. Wir wollten glauben, dass das deutsche Volk zusammen mit den alliierten Truppen die Kraft finden würde, Hitlers Regime zu stürzen, und dann würden sich die Gefängnistüren öffnen. Aber wir kannten das Innenleben Deutschlands zu gut, um ernsthaft darauf zu hoffen.
Ich erinnere mich gut an einen Mann in den Vierzigern. Dünn, blondes Haar. Wir nannten ihn Dmitri Iwanowitsch. Irgendwie wurde er plötzlich die Seele aller Häftlinge. Auf seinem Gesicht lag immer ein Lächeln. Wenn er uns etwas erzählte, hörten ihm alle Häftlinge wie gebannt zu. Er erzählte von Dingen, die nichts mit der schrecklichen Realität zu tun hatten, als ob es keinen Krieg gäbe und seine Heimat irgendwo außerhalb der Erde läge. Alle hörten seinen Geschichten und Erzählungen mit großem Interesse zu. Er erzählte von Mut und Geistesstärke und wiederholte immer wieder, dass die Lebenden über das Leben nachdenken sollten. Nach seinen Erzählungen verspürten alle noch stärker den Wunsch zu leben. Seine Märchen wurden nicht immer zu Ende erzählt; man spürte die Phantasie des Erzählers und seine außerordentliche Gelehrsamkeit. Er war etwa sechs Tage lang in der Zelle. Keiner wusste, wer er war und woher er kam. Alle Fragen beantwortete er mit einem Witz oder einer Geschichte. Eines Tages öffnete sich die Tür und ein SS-Offizier kam mit einem Wachmann, um ihn zu holen. Abrupt wandte er sich an die Gefangenen und sagte: „Lebt wohl, Kameraden! Erinnert Euch an einen russischen Menschen.» Und selbst in diesem Moment lächelte er. Der Wachmann ließ ihn nichts mehr sagen. Wie ein Raubtier stürzte er sich auf seine Beute. Der Gefangene stürzte und erhielt einen schweren Schlag mit dem Stiefel in die Seite.
Der Offizier wartete, während er sich langsam im Korridor erhob und sich mit der linken Hand krampfhaft an der Wand festhielt. Seine rechte Hand zitterte. Der Wachmann, der aus seiner Starre erwachte, schlug dem der Tür am nächsten stehenden Gefangenen mit dem Gummiknüppel ins Gesicht und knallte die Zellentür krachend zu. Die Stimme dieses „russischen Mannes“ hallte noch lange in den Seelen der Häftlinge nach.
Ich erinnere mich an eine seiner Erzählungen. Ich hatte sie weder vorher noch nachher irgendwo gehört.
Es war einmal ein Leibeigener namens Miron. Und er hatte einen Sohn Makar. Makar liebte Dunka, ein Mädchen vom Hof. Makar sagte zu seinem Vater Miron: » Verheirate mich, Vater, mit Dunka.» „Warte, mein Sohn“, antwortete Miron. Es liegt nicht in meiner Macht. Mit wem der Herr Dunka verheiraten will, dem wird er sie zur Frau geben. Welche Frau er mit dir verheiraten will, diese Frau wird er Dir geben. Warte, bis wir uns vom Herrn freigekauft haben, dann wirst du heiraten.“
Und so bat Miron den Herrn um das Lösegeld. Der war einverstanden und setzte den Preis auf 200 Rubel fest.
Aber Miron hatte nur 100 Rubel. Der Herr sagte: «Gib mir jetzt 100 Rubel, und in einem Jahr gibst du mir die restlichen 100. Aber wenn du sie in einem Jahr nicht gibst, wirst Du weder frei sein noch diese 100 Rubel haben.“
Miron war einverstanden und sprach zu Makar: «In einem Jahr werden wir frei sein. Wir werden die 100 Rubel irgendwie abarbeiten, wir werden nicht das Pferd, nicht die Kuh und nicht das Haus verkaufen, aber wir werden frei sein.“
Das Jahr ging bald zu Ende, und Miron konnte das Geld nicht verdienen. Und dann stahlen Diebe das Pferd vom Hof, die Kuh verendete, und zum Schluss brannte das Haus ab. Böse Zungen sagten, das sei alles die Tat des Herrn. Aber niemand hat es gesehen. Und damit Miron nicht länger an die Freiheit dachte, gab er Makar für 25 Jahre zu den Soldaten. So starb Makars Hoffnung, Dunka zu heiraten.
Makar diente Väterchen Zar treu. Er diente ein Jahr um das andere. Und im dritten Jahr war es, dass sie eine kostbare Ikone der Gottesmutter von Kasan nach Kiew transportierten. Und Makar wurde mit der Bewachung dieser Ikone betraut. Einmal saß Makar nachts in einem Dorf in einer Hütte und bewachte die Ikone, ohne zu schlafen, und als er die Ikone ansah, dachte er: „Hier stehst du auf dem Tisch, Mutter Gottes. Du trägst viele kostbare Steine. Und nur einer Deiner Steine ist genug für mich, um meine Freiheit zu bekommen und Dunka zu heiraten.»
Am Morgen kommt der Natschalnik der Wache in die Hütte und sieht: Auf dem Tisch steht eine Ikone mit zerbrochenem Glas, und Makar kniet vor ihr und betet. Und als er sein Gebet beendet hat, sagt er: «Letzte Nacht ist ein Wunder geschehen, Euer Ehrwürden. Ich sitze hier, betrachte die Ikone und denke bitterlich, dass sie mich für 25 Jahre zu den Soldaten gegeben haben, und jetzt werde ich meine Dunka nie wieder sehen, weil ich kein Geld habe, um mich beim Herrn freizukaufen. Gerade als ich dies dachte, sah ich, wie die Mutter Gottes zum Leben erwachte, das Glas zerbrach und mir einen ihrer Edelsteine reichte. Hier ist er, Euer Ehren. Nehmt ihn.»
Der Aufseher bekam Angst und begann Makar zu foltern. «Du lügst. Du hast das Glas selbst zerbrochen, und jetzt erfindest Du ein Wunder.» Aber Makar bekreuzigt sich und sagt immer wieder: Es ist ein Wunder geschehen, mehr nicht.
Was tun? Es musste dem Generalgouverneur Bericht erstattet werden. Der brachte einen Priester mit.
Und wieder wurde Makar verhört: „Gestehe, Sklave Gottes!»
Und egal, wie sehr sie auch auf ihn einredeten, Makar beharrte auf seinen Worten.
Es blieb nichts anderes übrig, als nach Moskau zu schreiben. Eine Kommission kam. Erneut wurde wieder alles auseinandergenommen, aber das Ergebnis war das gleiche. Dann erstattete der Erzbischof von ganz Russland dem Obersten Kirchenrat Bericht und sagte: „Ob es nun ein Wunder gab oder nicht, wir müssen es anerkennen, denn das Gerücht darüber hat sich bereits im ganzen Gouvernement verbreitet, und Tausende von gläubigen Pilgern kommen zu diesem Haus. Durch die Anerkennung dieses Wunders werden wir der Kirche nur nützen.“
Am nächsten Tag wurde das Dekret von Väterchen Zar verkündet:
«Wir, Alexander der Zweite, Alleinherrscher von ganz Russland, Zar von Polen, Fürst von Finnland, Estland, Kurland und so weiter und so fort, teilen hiermit unseren treuen Untertanen mit, dass im Dorf Nesmyschlyaevka, Provinz Penza, am 12. Juni 1830 ein Wunder geschehen ist. Als der Soldat Makar nachts Dienst hatte, wurde die Heilige Gottesmutter von Kasan in einer Ikone lebendig, zerbrach das Glas und reichte Makar einen der Edelsteine. Sie tat dies als Antwort auf Makars Gebet, in dem er sie bat, ihm zu helfen, sich vom Herrn zu befreien und das Hofmädchen Dunka zu heiraten. Die Tatsache des Wunders wurde von der Kommission der Heiligen Synode überprüft und vom Erzbischof von ganz Russland bestätigt.
Indem wir unsere treuen Untertanen von diesem Wunder in Kenntnis setzen, befehlen wir: Makar und seine ganze Familie aus der Leibeigenschaft zu entlassen; Makar mit dem Hofmädchen Dunka zu verheiraten; Makar und seine ganze Familie an den Zarenhof zu bringen; Makar eintausend Rubel zu geben, damit er sich selbst versorgen kann.
Und wir befehlen auch, in Zukunft solche Wunder nicht mehr zuzulassen.»
Hier in diesem „Waldgefängnis“ wurden einige auch zum Verhör vorgeladen. Doch später wurde klar, dass die Deutschen eher an Informationen interessiert waren, die Aufschluss über andere Gefangene, ihre Verbindungen, Identitäten usw. geben würden. Als es ihnen nicht gelang, das Ihrige zu erfahren, griffen sie auf den Einsatz von Stöcken oder Metallstangen zurück. An den Gefangenen selbst waren die Hitlerleute nicht interessiert. Ihr Schicksal war bereits vorherbestimmt – Konzentrationslager oder Erschießung.
Es kam der Tag, an dem sie begannen, alle einen nach dem anderen zum Verhör zu holen. Auch mich holten sie.
– Nachname, Vorname, Vatersname. Ich antwortete.
– Wo waren Sie?
– Im Sammellager, wo sie Häftlinge sammelten, die in die Ukraine geschickt werden sollten.
– Weshalb sind Sie im Gefängnis?
– Das weiß ich nicht.
– Was glauben Sie?
– Ich glaube, wegen loser Zunge.
– Propaganda?
– Sagen wir es so, obwohl das ein zu großes Wort ist.
– Sie sagten, die Sowjets würden siegen und Deutschland würde spätestens in einem Jahr besiegt sein?
– Ja, das habe ich gesagt.
– Worauf stützen Sie sich bei dieser Aussage? Wer hat Sie auf solche Gedanken gebracht?
– Das hat mir niemand gesagt. Ich wollte nur, dass es so ist.
Der Ermittler starrte mich an, als sei ich verrückt.
– Ich lobe Sie für Ihre Offenheit.
– Ich habe nichts zu verlieren.
– Warum sagen Sie das? Wollen Sie nicht leben, wollen Sie nicht nach Hause zu Ihrer Familie?
– Niemand wird mich zu meiner Familie zurückkehren lassen, ganz gleich, wie der Krieg ausgeht. Und meine Familie zu verlieren, bedeutet für mich, mein Leben zu verlieren.
Dann befragte mich der Ermittler etwa vierzig Minuten lang zu meiner Vergangenheit, ob ich ein Kommunist sei usw.
– Warum sind Sie gegen Deutschland eingestellt?
– Das bin ich nicht. Die Deutschen sind in Russland immer geachtet worden. Wir haben eine ganze Reihe deutscher Siedlungen. Und wenn Deutschland und Russland sich gegenseitig die Hand der Freundschaft reichen würden, wäre das Leben viel fröhlicher.
– Wir wollen euch Russen von den Bolschewiken befreien!
– In der Vergangenheit sind einige „Befreier“ zu uns gekommen, aber außer großes Leid haben sie dem russischen Volk nichts gebracht.
Dieses Mal wurde ich nicht verprügelt, sondern in die Zelle gebracht.
Eine Woche später wurden alle aus diesem Gefängnis in einen Zug verladen, der speziell für den Transport von Gefangenen eingerichtet war. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, wir wurden alle in ein Konzentrationslager gebracht. Wir hatten schon viel über solche Lager gehört. Es wurde erzählt, wie die Faschisten dort Menschen massakrierten. Viele von uns, die die Gräueltaten der Nazis erlebt hatten, glaubten an die fantastischsten Vorhersagen. ….
Konzentrationslager Mauthausen


Aus religiöser Sicht steigt der körperlose Geist des Menschen nach dem Tod in den Himmel auf oder stürzt im schlimmsten Fall in die Unterwelt und lässt hier auf der Erde seine verderbliche Hülle zurück. In der Unterwelt wird dieser leibliche Geist in einer Pfanne gebraten, in einem Kessel gekocht oder ganz allgemein experimentieren die Unreinen mit ihm und machen, was sie wollen. Tut es den Sündern weh oder nicht? Sind sie körperlos? Und wer verteilt eigentlich die Seelen der Verstorbenen, wer kommt in den Himmel, wer in die Hölle? Der Herrgott? Doch aus der Heiligen Schrift wissen wir doch, dass Satan keine Angst vor Gott hat, nicht unter seiner Herrschaft steht.
Gott schuf Adam und Eva, brachte sie in den Garten Eden, ohne ihnen, außer der Unsterblichkeit, elementare Begrifflichkeiten zu verleihen. Diese Mission übernahm die Schlange, d.h. der Teufel. Sie verleitete Eva dazu, den verbotenen Apfel zu essen. Sie erkannte sofort, wer und was sie war. Sie verköstigte Adam mit dem Apfel, woraufhin sie sich umarmten und in die Büsche zurückzogen. Einen anderen Unterschlupf hatte Gott für sie nicht vorbereitet. Als Gott dann sah, wie fleißig Adam und Eva ihre sündigen Glieder mit Kletten bedeckten, wurde ihm alles klar, er verfluchte sie und vertrieb sie aus dem Paradies, indem er bestimmte: «Seid fruchtbar und mehret Euch und verdient im Schweiße Eures Angesichts Euer täglich Brot.»
Wie sich zeigt, leben wir alle auf Erden durch die Gnade des Teufels, der Adam und Eva erleuchtete. Es stellt sich heraus, dass die Seelen der Toten in den Himmel oder in die Hölle kommen, abhängig davon, wer sie zuerst abfängt, der Teufel – der Bote Satans – oder ein Engel – der Bote Gottes. Unter diesen Umständen ist es eine mühselige Angelegenheit, herauszufinden, was diese Seele ist, wem sie gehört, dem Gerechten oder dem Sünder….
Lang war die Fahrt mit dem Zug durch Deutschland, Polen und Österreich bis zum Konzentrationslager. Das Lager Mauthausen befindet sich im Westen Österreichs in den Bergen nicht weit von Linz. Auf der Fahrt fütterten sie uns so, wie sie es im Gefängnis taten, damit die Lebensfähigsten überlebten.
Von der Eisenbahnstation bis zum Lager wurden wir einige Kilometer in einem Treck geführt, von dem ich bis dahin keinerlei Vorstellung hatte. Wir wurden in einer Kolonne mit jeweils fünf Mann in einer Reihe aufgestellt. An jeder Reihe standen zwei SS-Männer mit Hunden, die an den Leinen zerrten und versuchten, sich auf die Häftlinge zu stürzen.
Das Lager nahm ein riesiges Gelände auf einem Hochplateau ein. Die Steinmauer ragte 5-6 Meter hoch. Auf der Mauer befand sich unter Spannung stehender Stacheldraht auf Porzellanisolatoren. An den Zugängen zur Mauer in einem Abstand von 5 Metern war ebenfalls Stacheldraht auf Stangen gespannt. Der Raum zwischen der Mauer und dem Stacheldrahtzaun war ebenfalls mit Draht gefüllt, der in Ringen angeordnet ist. Auch im Inneren des Lagers entlang der Mauer war alles mit Draht versehen. An den Ecken der Mauer und auf den langen Abschnitten standen hohe Türme mit Suchscheinwerfern, auf denen Maschinengewehrschützen postiert waren.
Das gesamte Gebiet des Lagers war mit Baracken und Blocks bebaut, mit Ausnahme des Bereichs direkt neben dem Eingang. Hier gab es eine große Fläche – einen Platz. Im gegenüberliegenden, vom Tor entfernten Teil des Lagers waren mehrere Baracken von einer zusätzlichen hohen Steinmauer mit Stacheldraht umgeben: ein Lager im Lager. Später erfuhr ich, dass dort für die Nazis besonders gefährliche Gefangene untergebracht waren. Etwas weiter entfernt befand sich ein freistehendes Krematoriumsgebäude mit einem ständig rauchenden Schornstein. Wir wurden entlang eines langen Barackenblocks rechts vom Tor aufgereiht. Ein langwieriger Zählappell begann. Ein Mann wurde aufgerufen und ein Metallarmband mit einer fünfstelligen Nummer wurde ihm am Handgelenk angelegt. Danach betrat er den Block, zog sich nackt aus und ließ alles auf dem Boden liegen, einschließlich Brillen, Uhren usw..
Nur mit der Nummer am Arm ging der Häftling in den Nebenraum, wo mehrere Friseure an einem Tisch arbeiteten. Der Häftling wurde unter der Maschine rasiert, bis auf Null. Im nächsten Raum befand sich ein Duschraum, dann ein Raum, in dem Unterwäsche aus irgendeinem leichten Kunststoff, Hosen und eine ungefütterte Jacke aus einem gestreiften, etwas dickeren Stoff sowie Holzschuhe ausgegeben wurden.
Das gesamte «Dienstleistungspersonal» in diesem und in den anderen Blöcken bestand hauptsächlich aus deutschen Kriminellen. Es war unmöglich, irgendetwas durch diesen Block mitzunehmen. Ein spezieller Aufseher befahl uns, beim Betreten des Blocks den Mund weit zu öffnen, damit auch dort niemand etwas verbergen konnte. Von diesem Block wurden wir in den Quarantäneblock gebracht, aus dem wir fünf Tage lang nicht herauskamen. Die Häftlinge wurden herausgeholt und schubweise in den Krankenbau geführt, wo der SS-Arzt jeden Häftling zwang, den Mund zu öffnen. Wenn ein Häftling Goldkronen hatte, wurde er zur rechten Tür geführt. Wenn er keine hatte, zur Tür auf der linken Seite. Zuerst verstand ich nicht, was da vor sich ging. Später erfuhr ich das Schicksal derjenigen, die Goldkronen hatten. Sie wurden in einem Quarantäneblock untergebracht und anschließend periodisch in kleinen Gruppen in einen Raum neben dem Krematorium. Dann wurden ihnen die Goldkronen herausgerissen, sie in die Gaskammer getrieben und die Toten dann verbrannt….
Ich hatte keine Goldkronen, ich ging durch die Tür links und wurde in den Häftlingsblock zur Arbeit geschickt.
Ein Zeitungszitat:
„30 Kilometer von Ardagger entfernt befindet sich ein weiteres Museum, das die ganze Welt kennt – Mauthausen. Während der Zeit der Naziherrschaft wurden in diesem Todeslager über 120.000 Menschen vernichtet…»
Ich weiß nicht, wie soll ich über diesen schrecklichen Ort, über diese schrecklichen Tage sprechen? Vielleicht sollten wir die Erinnerung nicht stören? Die Seele in Ruhe lassen? Aber die Erinnerung lebt und bedrängt mich unerbittlich. Sie bedrängt mich seit Jahren und wird nicht schwächer. Mir scheint, wenn ich einem Blatt Papier von dieser erlebten Hölle erzähle, kann ich diese schreckliche Last einigermaßen loswerden, und ich werde mich besser fühlen.
Frühmorgens im Block gibt es das Kommando: «Aufstehen!». Die Reihen der zweistöckigen Pritschen erwachen sofort zum Leben. Die Häftlinge zerren sich ihre Kleider an, rennen in den Waschraum, in den Toilettenraum. Dann stellen sie sich in einer Reihe auf und erhalten ihr Frühstück: 200 Gramm Ersatzbrot, ein Stück Pferdewurst und einen Becher mit Ersatzkaffee. Das alles wird sofort aufgegessen und die Häftlinge werden aus dem Block getrieben. Dann werden sie in Fünferkolonnen aufgereiht und auf den Lagerplatz gebracht. Dort wird jeder Block getrennt voneinander aufgestellt. Die Blockführer und Schreiber kontrollieren, ob alle an ihrem Platz sind und erstatten dem Lagerführer Bericht. Nachdem er alle Berichte gehört hat, gehen der Lagerführer und eine Gruppe von Sicherheitsbeamten die Kolonnen ab. Nach Abschluss dieser Runde gibt der Lagerführer den Befehl. Alle, die in irgendeiner Weise im Lager beschäftigt sind, treten aus der Formation und verlassen den Platz. Der Rest wird in Arbeitsgruppen eingeteilt und verlässt das Lager unter Bewachung. Dies geschieht jedoch nur in den seltenen Fällen, in denen der Lagerführer apathisch ist. Meistens geht er an den Häftlingen vorbei, spricht sie an, hackt auf ihnen herum und schlägt sie mit einem Gummiknüppel mit Metallkern (diese Knüppel wurden industriell speziell für Gefängnisse und Konzentrationslager hergestellt). Wie auf ein Stichwort hin beginnen dann die ihn begleitenden Offiziere, dasselbe zu tun.
Am Tor werden die Arbeitsgruppen noch einmal gezählt und machen sich in Begleitung von Kapos (Aufsehern) und Wachen auf den Weg zu ihrem Ziel. Ich gehörte zu einer der Gruppen, die Steine aus dem Steinbruch auf das Gelände des Konzentrationslagers schleppten.
Der Steinbruch lag zweihundert Meter vom Lager entfernt. Der Abstieg dorthin erfolgte über eine Treppe, die nach dem Krieg als «Treppe des Todes» bekannt wurde. Sie hatte genau zweihundert Stufen. Der Steinbruch war ziemlich groß. An verschiedenen Enden des Steinbruchs wurde das Gestein vorbereitet: Es wurde gebrochen, gesprengt, gebohrt…. In der Nähe der Steine, die für den Abtransport bereitstanden, und auf dem ganzen Weg die Treppe und den Hang hinauf zum Konzentrationslager standen SS-Soldaten mit Maschinengewehren um den Hals und Stöcken in den Händen. Überall hörte man: „Los! Los!“. Und Schläge auf die Köpfe. Wenn man versuchte, einen leichteren Stein aufzuheben, wurde man mit einem Knüppel geschlagen und von einem Soldaten aufgefordert, einen schwereren oder noch einen Stein zu nehmen. Wenn man eine solche Last trägt, die Treppe hinaufgeht und von den Soldaten getrieben wird, spürt man, wie die Beine zittern, das Herz bis zum Anschlag schlägt und der Atem die Brust zerreißt. Es scheint, dass dies alles ist, wozu du heute fähig bist. Aber nachdem du den Stein in der Nähe des Zauns des Konzentrationslagers abgeworfen hast, gehst du leichtfüßig zum Steinbruch zurück, gehst die Treppe hinunter und lässt die tödliche Müdigkeit irgendwie hinter dir. Wieder hebst du einen Stein hoch und wieder bergauf. Und so weiter bis zum Ende des Arbeitstages, angetrieben von Wachen und Kapos. Die Kapos waren besonders brutal. Dabei handelte es sich ebenso um Gefangene, deutsche Kriminelle, die sich mit einem Gummiknüppel oder einem einfachen Holzstock eine doppelte Portion Brot und Suppe verdienten. Viele Soldaten versuchten, die Gefangenen nicht zu schlagen, wenn kein Offizier in der Nähe war. Aber wehe dem, gegen den der Offizier selbst einen Knüppel erhob. Derjenige wurde in der Regel ins Lager gebracht und dort im Krematorium in Rauch verwandelt. Wenn ein Mensch das nicht aushielt und umkippte, kam ein deutscher Arzt zu ihm, gab ihm irgendein Aufputschmittel zu trinken oder stellte seinen Tod fest. Derjenige, der die „Hilfe“ des Arztes erhalten hatte, musste nach einer Minute weiterarbeiten. Wenn es anfing zu regnen, wurde die Arbeit nicht unterbrochen, nur die Wachen zogen ihre Regenmäntel an. Am Ende des Arbeitstages wurden alle in Fünferkolonnen aufgereiht und zum Lager geführt. Vor dem Tor wurden sie anhand der Listen gründlich kontrolliert, und vom Tor aus wurden sie in Begleitung einiger Kapos zu den Blocks geführt.
Dann wurde ein Bottich mit Suppe gebracht, und jeder bekam seine Portion. Ohne Brot, versteht sich. Abendessen gab es nicht. Nach einer Weile – Abendappell. Zuerst eine Vorinspektion und dann die Generalinspektion auf dem Platz. Oft tauchte während der Abendinspektion ein mobiler Galgen am Rande des Platzes auf. Das bedeutete, dass heute jemand vor den Augen der ganzen Truppe hingerichtet werden würde. Das Opfer wird aus dem Büro am Tor herausgeführt. Die Hände auf dem Rücken gefesselt. Dolmetscher verkündeten den Gefangenen in verschiedenen Sprachen die Schuld, für die das Opfer gehenkt werden soll. Und dann wurde das Urteil vollstreckt.
Neben jedem Block standen große Wasserbottiche für den Fall eines Brandes. Bei mehreren Gelegenheiten sah ich, wie die Kapos einen Gefangenen nahmen, ihn auf den Kopf stellten und bis zur Taille in den Bottich tauchten. Nachdem sie ihn einige Minuten lang festgehalten hatten, zogen sie ihn bereits tot heraus. Bei diesen grausamen Massakern war immer entweder ein SS-Offizier oder der Blockführer anwesend. Zwischen Abendkontrolle und Abmarsch zum Schlafen durften die Häftlinge in der Nähe ihres Blocks bleiben. Wenn ein Offizier erschien und „Achtung!“ gerufen wurde, mussten alle strammstehen, bis der Offizier sich entfernte. Und so ging es jeden Tag ….
Jeden Tag wurde jemand in das lagerinterne «Revier» (Krankenhaus) oder in einen speziellen Block für Arbeitsunfähige gebracht, aus dem nur selten jemand zurückkehrte. Im Grunde gab es nur einen Weg dort heraus – ins Krematorium. Sobald Plätze in den Arbeitsgruppen frei wurden, wurden sie sofort mit neuen Häftlingen besetzt. Einmal saß ich nach der Abendkontrolle mit meinem Lagerkameraden Alexandrow und einem anderen Freund zusammen, der früher Hauptmann genannt worden war. Alexandrow sagte:
– Ich kann diese Demütigung nicht länger ertragen. Ich werde irgendeinen Offizier mit einem Stein erschlagen.
Wir schwiegen eine Minute lang.
– Seid Ihr mal von Hunden gebissen worden?“, fragte der Hauptmann plötzlich.
– „Was für Hunde? – Alexandrow war überrascht.
– Gewöhnliche Hunde mit Schwänzen, wuff, wuff….
– Ja schon.
– Und habt Ihr Euch gedemütigt gefühlt?
– Nun, es sind Hunde.
– Und was denkst du, was sind Faschisten?
Wieder Schweigen…
– Allein zu kämpfen ist tragisch, – fuhr der Hauptmann fort. Wenn du einen Faschisten tötest, werden sie nicht nur dich töten, sondern auch Dutzende andere als Vergeltung. Und Du wirst für deren Tod verantwortlich sein. Habt Geduld. Die Rache ist nicht weit entfernt und niemand kann ihr entkommen. Was waren Sie in der Armee?
– Sergeant, – antwortete Alexandrow.
– Und ich ein Hauptmann. Meine Worte sollten für Euch einem Befehl gleichkommen.
– Das ist alles richtig. Nur in solcher Gefangenschaft zu leben ist schlimmer als der Tod.
Später sagte Alexandrow, als hätte er meine Gedanken gehört:
– „Morgen werde ich es nicht mehr aushalten können. Ich werde fallen. Vielleicht sollte ich mir einen Stein auf den Fuß fallen lassen. Ich werde im Revier landen. Dort wird man mich behandeln.
– Du kommst nicht ins Revier, sondern ins Krematorium, antwortete ich.
Am Morgen, während der Inspektion auf dem Platz, hatte ich das Gefühl, dass ich diese Sklavenarbeit nicht mehr aushalten konnte. Wie lange kann ein ausgelaugter Mann Steinblöcke tragen, die manchmal bis zu 50 Kilogramm wiegen?!
Nach der Kontrolle wurde unser Trupp zusammengestellt, mit neuen Gefangenen aufgefüllt und unter schwerer Bewachung in eine andere Richtung geführt. Wir legten etwa drei Kilometer zu Fuß zurück. Von diesem Tag an wurden wir hierhergebracht, um eine Straße zu bauen.
Der sandige Untergrund wurde vorbereitet. Ein Teil der Häftlinge brachte die Pflastersteine, ein anderer Teil war mit ihrer Verlegung beschäftigt. Die Arbeit war anstrengend und hart, aber im Vergleich zur Arbeit im Steinbruch kam sie uns wie ein Urlaub vor. Wir werden also noch etwas leben. Alexandrow machte mich darauf aufmerksam, dass es auch in der weiteren Umgebung Posten gab, offenbar für den Fall eines Fluchtversuchs. Irgendwo in der Nähe kläfften Hunde.
Eines Abends, als wir von der Arbeit zurückkamen, wurde bekannt, dass eine neue Gruppe von Häftlingen in den Quarantäneblock gebracht worden war, der zu diesem Zeitpunkt bereits geräumt war. Auch der an das Krematorium angrenzende Block, in dem die Todeskandidaten untergebracht waren, wurde aufgefüllt. Man öffnete ein Tor in der Steinmauer zum Lager im Lager für Personen, die von den Nazis als besonders gefährlich eingestuft wurden und es wurden dorthin zwanzig neue Häftlinge eingeliefert, die bis dahin in einer der Kammern des Blocks untergebracht waren, in dem sich das Lagerbüro befand.
Zu den für alle obligatorischen Inspektionen am Morgen und am Abend wurden niemals Häftlinge aus dem Quarantäneblock, dem Krankenrevier, dem Todeszellenblock oder dem Speziallager gebracht.
KZ-Außenstelle Mauthausen-Ebensee
Es vergingen zwei Monate meines «Lebens» im KZ Mauthausen. Eines Morgens wurde nur ein Teil der Mannschaften zur Arbeit gebracht. Aus irgendeinem Grund wurden wir in die Blocks zurückgebracht. Es gab das Gerücht, dass viele in ein anderes Konzentrationslager geschickt werden sollen. In der Tat bekamen einige der Blocks früher als sonst die Mittagssuppe. Danach wurden wir unter verstärkter Eskorte zum Bahnhof gebracht. Dort wurden wir in Güterwaggons gepfercht, die so voll waren, dass es unmöglich war, sich zu setzen. Wir wussten bereits, dass wir in ein anderes Lager gebracht wurden, eine „Außenstelle“ von Mauthausen – Ebensee. Die Fahrt ging schnell und am Ende des Tages waren wir schon da. Das Lager Ebensee lag nicht weit vom Bahnhof entfernt, in einem Kiefernwald am Fuße eines steilen Felsmassivs. Obwohl es ein „Nebenlager“ von Mauthausen war, war es ziemlich weitläufig. Das Lager hatte keine Steinmauer, war aber auch von einem hohen Zaun mit Stacheldraht umgeben. Im Inneren des Lagers befanden sich die gleichen Blocks und ein Krematorium. Der einzige Unterschied war, dass es keinen einzigen Block für besonders gefährliche „Verbrecher“ gab.
Die Desinfektion dauerte sehr lange. Es war schon Nacht, als ich an der Reihe war, unter die Dusche zu gehen. Ich wechselte die Kleidung, bekam neue «Holzschuhe» anstelle von Schuhen. Man brachte warmen «Kaffee». Alexandrow und ich schafften es, im neuen Block nebeneinander untergebracht zu werden.
Der ganze nächste Tag wurde mit der Zusammenstellung von Arbeitsteams verbracht. Am folgenden Tag wurden wir zur Arbeit gebracht, wohin alle bisherigen Lagerinsassen gegangen waren. Das war ganz in der Nähe, Tunnel in den steilen Felsen des Gebirges. Irgendeine unterirdische Fabrik. Das Fabrikgelände wurde gerade gebaut. Wir bauten acht parallele Stollen. Am Eingang waren sie niedrig und nicht breit. Aber tiefer drinnen wurden sie breiter und höher. Die fertigen Tunnel waren kilometerlang. Andere wurden gerade erst gebaut. Die Tunnel waren durch schmale Gänge miteinander verbunden. Am Eingang jedes Tunnels befand sich eine arbeitende Pumpe, die Luft durch einen Schlauch bis zum Ende des Tunnels pumpte. Auf diese Weise wurde die staubige und explosionsvergiftete Luft aus den Tunneln gedrückt. In den fertigen Tunneln wurden an den Wänden und an der Decke Zementplatten angebracht, die mit Stahlbetonstützen verstärkt wurden. Deutsche und österreichische Ingenieure überwachten alle diese Arbeiten. Deutsche Offiziere mit Stöcken und Kapos überwachten den Fortgang der Arbeiten. In den Tunneln, die noch gebohrt wurden, war stets das unerhörte Donnern zahlreicher Druckluftbohrmaschinen zu hören. Nach Abschluss der Bohrungen wurden Sprengladungen angebracht, mit denen das Gestein gesprengt wurde. Danach luden die Häftlinge den Schutt auf Waggons und rollten ihn nach draußen. Mir fiel auf, dass das Revier (Krankenstation) in diesem Lager aus zwei Blöcken bestand. Später wurde mir klar, warum. Jeden Tag wurden Dutzende von Verwundeten aus den Tunneln geholt, die durch von der Decke fallende Steine verstümmelt wurden. Wenn ein Stein den Kopf traf, bedurfte der Häftling in der Regel keiner Behandlung mehr. Solche Häftlinge wurden direkt in den Block neben dem Krematorium gebracht.
Trotz der Gräueltaten der Faschisten ging die Arbeit nur sehr langsam voran. Wenn ein deutscher Offizier auftauchte, erwachte alles zum Leben: Die Kapos schrien, fuchtelten mit Stöcken, die Loren rasten, die Bohrmaschinen gruben sich kreischend in den Fels. Die Häftlinge beluden die Loren mit Gesteinsbrocken. Aber sobald der Offizier zum anderen Ende des Tunnels ging, hörte das Geschrei der Kapos auf und die Arbeit verlangsamte sich allmählich. Die Loren krochen kaum noch. Die Bohrmaschinen ratterten zwar noch in den Bohrlöchern, aber sie gruben sich nicht mehr in den Fels. Der Kapo beobachtete nicht mehr die Arbeiter, sondern das mögliche Herannahen eines Offiziers, um rechtzeitig „Schnell!“ brüllen zu können. … Häufiger war jedoch ein leises „langsam, langsam, langsam» zu hören.
Es gab auch eine solche Geschichte. In den Tunnel kam ein älterer Mann, offensichtlich ein Ingenieur in Zivilkleidung. Der Kapo hatte ihn noch nie gesehen und brüllte natürlich «Schnell!». Der Ingenieur sagte irgendetwas Grobes auf Deutsch zu ihm, und er hörte sofort auf zu brüllen. Als er an den Gefangenen im Tunnel vorbeiging, brummte der Ingenieur leise das allen bekannte «langsam, langsam» vor sich hin. Und die Männer bemühten sich, ihre Kräfte zu sparen, wenn sie konnten. Diese Haltung gab den Gefangenen Hoffnung und Ermutigung.
Die Zeit verging. Der Winter kam. Wir bekamen Umhänge aus dem gleichen gestreiften Material, die uns aber überhaupt nicht wärmten. Die Menschen froren draußen und gingen gern in die Stollen, wo es zwar kalt war, aber kein durchdringender Wind wehte. Die Kälte wurde zur größten Qual für die Häftlinge. Es gab ein Team, das nicht zur Arbeit in den Tunneln, sondern zum Bau von irgendwelchen Schuppen eingesetzt wurde. Die Männer dieses Trupps erfroren einfach. Die meisten von ihnen wurden mit Karren zurückgebracht, direkt in den Block neben dem Krematorium.
Zweimal sah ich, wie unter Aufsicht eines faschistischen Offiziers ein nackter Häftling an einen Pfahl gebunden und mit einem Wasserschlauch abgespritzt wurde. Unter dieser Dusche sich windend, erfror der Mann allmählich und wurde mit einer Eiskruste überzogen.
Wie in Mauthausen wurde auch hier oft während der Abendinspektion eilig ein Galgen errichtet, das nächste Opfer aus dem Bürogebäude geholt und vor aller Augen hingerichtet.
Wenn ein Offizier in der dienstfreien Zeit durch das Lager ging, erstarrten alle mit ausgestreckten Armen an der Hosennaht. Anstatt vor dem Offizier zu «erstarren», stürzte einmal einer der Häftlinge in den Block. Mit vorgehaltener Waffe holte der Offizier den Häftling aus dem Block und zwang ihn, zum Stacheldraht zu gehen, der unter Strom stand, und ihn zu anzufassen. Meistens war es jedoch so, dass ein Offizier, wenn er durch das Lager ging, einen Mann, den er nicht mochte, einfach aus nächster Nähe erschoss.
Mitten im Winter, ich arbeitete in einem Tunnel, schob ich eine Lore zu einer Verlademaschine. Zu diesem Zeitpunkt löste sich eine große Steinplatte vom Dach und stürzte auf die Verlademaschine. Ein großer Splitter der Platte traf mich in die Seite. Ich fiel hin und konnte nicht gleich wieder aufstehen. Dann stand ich auf, ging zur Lore hinüber und ließ mich leise neben ihr nieder. Es tat weh zu atmen. Der Kapo befahl zwei Häftlingen, mich zum Revier zu bringen. Dort stellte ein polnischer Arzt, ebenfalls ein Häftling, sofort fest, dass ich zwei gebrochene Rippen hatte. Mit einem Stück Laken wurde ich fest verbunden und gezwungen, mich hinzulegen. Gegen Ende des Tages befahl der faschistische Chefarzt, ihm die Neuzugänge zu zeigen. Man brachte mich zu ihm. Die Frakturstelle war geschwollen und blau. Er schlug mir mit der Faust ziemlich hart auf die geschwollene Stelle. Als er gegangen war, wurde ich wieder mit einem Stück Laken verbunden.
Auf dem Revier gab es die übliche Hungerration. Nach zwölf Tagen fühlte ich mich nicht so sehr ausgeruht, aber ich konnte mich etwas entspannen. Im Revier gab es wenig oder gar keine Medizin. Die Verbände wurden aus gewaschenen Lappen und Binden hergestellt. Unter diesen Bedingungen taten die Gefängnisärzte nahezu Unmögliches, um Leben zu retten.
Zwölf Tage später wurde ich wieder in den Block zurückgebracht, aber nicht in den, in dem ich vorher gewesen war. Ich fand mich auch in einem anderen Arbeitsteam wieder, das in einem anderen Tunnel desselben Typs arbeitete. Aleksandrow traf ich jeden Tag nach der Arbeit. Er stellte mich zwei neu eingetroffenen Russen vor, die erzählten, dass unsere Armee die faschistischen Horden bereits auf dem Gebiet Polens zerschlägt.
Am Ende des Winters waren vier riesige unterirdische Werkhallen vollständig vorbereitet für die Montage der entsprechenden Ausrüstung. Aber die Ausrüstung kam nicht. Die Häftlinge freuten sich. Die riesigen Tunnels erschienen uns nun als praktische Kühlschränke für die Nachkriegszeit. Die Arbeit in den anderen vier Tunnelbauwerken ging weiter, aber mit noch weniger Eile. Dafür in Krematorium mit um so größerer Eile. Die Verpflegung wurde noch schlechter. Die Sterblichkeit nahm zu. Mein Freund Alexandrow konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und war psychisch völlig am Ende. Er fragte mich, ob es vernünftig wäre, wenn er im Moment des Zusammentreffens zweier Loren eine Bein dazwischen stellen würde. Das würde ihm die Chance geben, in das Revier zu kommen, sagte er. Es kostete mich viel Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass er damit nicht nur sein Bein, sondern auch sein Leben verlieren würde. Sein zerquetschtes Bein würde hier nicht behandelt werden, und er würde in der Todeszelle landen.
Die Befreiung
An alles, was danach geschah, erinnere ich mich wie an einen schlechten Traum.
Der Winter ging zu Ende. Der Frühling kehrte ein. Am Himmel tauchten immer öfter Staffeln amerikanischer Flugzeuge auf. Es ging das Gerücht um, dass unsere Truppen Wien eingenommen hatten und Berlin einkesselten. Wir gingen immer noch in die Stollen, aber wir arbeiteten kaum noch. Sie gaben uns kein Brot mehr. Statt der dünnen Suppe begann man, Wasser mit Kartoffelschalen zu kochen. Diese Brühe war absolut flüssig wie Wasser und stank nach Fäulnis. Die Abendinspektion wurde ohne den Lagerführer und die Offiziere durchgeführt. Am Abend verbreitete sich das Gerücht, dass die Häftlinge am Morgen in die Stollen getrieben und die Stollen gesprengt. Am Morgen waren alle Häftlinge in ihren Blocks, trotz des gegebenen Befehls ging niemand auf den Appellplatz. Es erschienen Häftlinge mit weißen Armbinden, Vertreter der Selbstverwaltung des Lagers. Die Blockführer und Kapos, die Häftlinge verhöhnt und umgebracht hatten, versteckten sich, aber sie wurden gefunden und vernichtet. Der Lagerführer und der gesamte Offiziersstab stiegen in Autos und verließen das Lager. Die Lagerwachen blieben jedoch vor Ort und es gab keine Möglichkeit, das Lager zu verlassen. Die Arbeit in den Tunneln wurde eingestellt. Die Öfen im Krematorium erloschen. Die Toten wurden in der Nähe des Krematoriums gestapelt. Die Macht innerhalb des Lagers ging vollständig in die Hände der Selbstverwaltung über.
Im Lager gab es keine Lebensmittel mehr. Aber man konnte sich jederzeit kochendes Wasser holen. Mein Freund Alexandrow hatte seine Lebensgeister wiedergefunden und lief jetzt voller Energie durch das Lager, um mir ständig kochendes Wasser zu bringen. Ich konnte mich schon zwei Tage nicht mehr erheben. Meine Beine versagten und ich starb vor völliger Erschöpfung einen Hungertod, wie Tausende andere auch.
Am Morgen des 5. Mai näherten sich amerikanische Panzer dem Lager. Die Wachen blieben auf ihren Plätzen. Doch nach einer Weile flohen sie und warfen ihre Waffen weg. Die amerikanischen Panzer durchbrachen das Tor und den Lagerzaun und fuhren in das Lager. Die Häftlinge, die sich noch bewegen konnten, stürzten sich auf die Panzer, kletterten auf sie und schlugen mit allem, womit sie konnten, auf sie ein. Die erschrockenen Soldaten begannen in die Luft zu schießen, um die Häftlinge zu beruhigen. Meine Kameraden holten mich aus dem Block und setzten mich an die Wand, damit ich sehen konnte, was passierte.
Als sich alles etwas beruhigt hatte, öffneten die Panzerfahrer die Luken und begannen, alles, was sie zu essen hatten, rauszuwerfen. Aber das musste sofort gestoppt werden, denn die Häftlinge waren vor Hunger bereit, sich für ein Stück Brot gegenseitig umzubringen.
Nach ein paar Stunden fuhren mehrere Fahrzeuge mit Lebensmitteln und medizinischem Personal in das Lager. Ich habe nicht gesehen, wie die Verteilung der Lebensmittel an diejenigen erfolgte, die sich noch selbständig bewegen konnten. Jemand brachte mir ein Stück Weißbrot, das dick mit Sülze beschmiert war. Ich versuchte, es zu essen, aber ich konnte nicht, mir war übel. Dann holten sie mich ab und brachten mich auf einer Trage in die Baracke, in der zuvor die Wachen untergebracht waren. Über meinem Bett hing ein Glasgefäß mit irgendeiner Lösung, von dem ein Schlauch mit einer Nadel direkt in meinen Magen führte. Drei Tage lang wurde ich so über die Nadel ernährt. Am vierten Tag gaben sie mir zur Probe eine Brühe. Ich aß sie auf, und eine Woche später verließ ich die Krankenstation in Richtung der Baracken, allerdings mit Hilfe von Stöcken. Meine Beine hörten nicht auf mich.
Der lange Weg nach Hause
Ich habe überlebt. Doch viele derjenigen, die sich nach der Ankunft der Amerikaner zwischen Leben und Tod befanden, konnten nicht gerettet werden. Noch einige Tage starben die Menschen weiter. Als ich von der Krankenstation in die allgemeine Baracke kam, fand mich Alexandrow. Es ging ihm schon wesentlich besser, aber er litt unter Magenproblemen. Er hatte zu viel gegessen. Am ersten Tag bat ich Alexandrow, mir beim Laufen zu helfen. Wir gingen durch das Lager. Einige der Blocks wurden noch von den Häftlingen als Unterkunft genutzt, während die übrigen Blocks völlig zerstört waren. Unter der Leitung eines amerikanischen Offiziers luden zwei ältere Deutsche tote Häftlinge auf einen Wagen und brachten sie außerhalb des Lagers zu einem Massengrab. Es war leicht, mit den Leichen zu arbeiten. Von ihnen ging kein Verwesungsgeruch aus, Haut und Knochen waren fast ausgetrocknet.
Am ersten Tag, als die amerikanischen Panzer in das Lager eindrangen, versorgten sich viele Häftlinge mit irgendwelchen amerikanischen Lebensmitteln und drängten nach Osten. Jedoch kehrten viele von ihnen nach einiger Zeit in das Lager zurück. Etwa einen Kilometer vom Lager entfernt befand sich die Kaserne irgendeiner deutschen Armeeeinheit. Jetzt stand diese Kaserne leer. Die Amerikaner beschlossen, alle Russen in dorthin zu evakuieren, so dass nur noch Gefangene anderer Nationalitäten im Lager blieben.
So begannen wir, uns in dieser Kaserne niederzulassen und zu Kräften zu kommen. Wir begannen, eine Bestandsaufnahme aller Leute zu machen, wer, woher, bei wem und wo gedient. Hier erfuhr ich zum ersten Mal, dass mein Freund Alexandrow gar nicht Alexandrow war, sondern Lovkin Alexandr aus Armavir, der von den Deutschen gefangen genommen worden war, als er mit anderen versuchte, in ein Partisanenlager zu gelangen.
Der Tag des Sieges und der Kapitulation des faschistischen Deutschlands sah mich noch auf der Krankenstation. Die Kämpfe hatten aufgehört. Ein Offizier der Sowjetarmee besuchte uns. Auf dem Platz neben der Unterkunft hatten sich alle Häftlinge des Konzentrationslagers versammelt, jeder wollte Neuigkeiten aus der Heimat und über unser zukünftiges Schicksal hören. Doch seine Rede war ungewöhnlich unklar, und wir verstanden nicht, was mit uns geschehen würde.
Fast zwei Monate lang lebten wir in dieser Kaserne. Der Offizier der Sowjetarmee, der zu der amerikanischen Militäreinheit für die Angelegenheiten der nach Deutschland verschleppten sowjetischen Bürger abkommandiert war, erschien oft in unserer Kaserne, aber einem Gespräch mit uns wich er aus. Damals hörten wir zum ersten Mal das Wort „Repatriierung“. Es stellte sich heraus, dass wir repatriiert werden, wir sind Repatriierte, d.h. Menschen bis auf Weiteres ohne Heimat. Wir sind nichts und niemand braucht uns. Man hatte das Gefühl, dass der «große» Stalin uns betreffend ungünstige Anordnungen getroffen hatte.
Zur gleichen Zeit fuhren die Gefangenen anderer Nationalitäten nach Hause. Um die Franzosen, Holländern, Serben und Polen zu holen, kamen Autos, Sonderzüge und Flugzeuge. Wir Sowjetbürger waren die einzigen, die auf etwas Unbekanntes warteten. Es gab einige, die das Interesse an der Rückkehr in die Heimat zu verlieren begannen.
Schließlich kam auch ein Zug für uns. Es war ein Güterwagen, der in keiner Weise ausgerüstet war. Irgendwie hat man uns verladen, Gesunde und Kranke zusammen. Sie brachten uns nach Ungarn. Ein Lager am Rande von Budapest wurde zu unserer Bleibe. Budapest lag in Trümmern. Es war bereits sowjetische Besatzungszone. In Österreich wurden wir noch eingekleidet. Wir bekamen abgetragene Kleidung, die offensichtlich aus den Lagerhäusern stammte, die es in der Nähe der Konzentrationslager gab.
Eine Woche später wurden wir mit demselben Güterwagen nach Rumänien in ein Lager in der Nähe irgendeiner Provinzstadt gebracht. Nachdem wir hier ein oder zwei Wochen festgehalten worden waren, wurden wir erneut in einen Zug verladen und in die Sowjetunion gebracht, wo wir einem provisorischen Lager in der Nähe von Lwow zugewiesen wurden. An einer der Grenzstationen wurden wir zwei Stunden lang festgehalten. Alle wurden gründlich durchsucht. Das war so verstörend, dass uns die Tränen kamen. Was konnte man bei ehemaligen Lagerhäftlingen finden, die nicht einmal warme Kleidung besaßen. Wir lebten ziemlich lange in diesem Lager, ohne dass wir die Möglichkeit hatten, Nachrichten von uns nach Hause zu senden und zu erfahren, wie es zu Hause ging. Schließlich wurde uns gestattet, nach Hause zu schreiben, aber ohne Absender. Alle suchten eilig nach Papier. Soldaten aus einer benachbarten Militäreinheit halfen uns.
***
1946 gelang es mir endlich, wieder mit meiner Familie zusammenzukommen. Wir zogen von Grosny nach Kuibyschew.
Acht Jahre vergingen. Und plötzlich gab es Signale, dass man nach mir suchte. Sie suchten nach mir in Grosny, Asow, Pensa, Rostow. Mir wurde klar, dass die faschistischen Archive ausgehoben worden waren und man nach den überlebenden Häftlingen suchte. Offenbar wurde ich in den Listen der Repatriierten gefunden. Wie war das für meine Frau? Wenn man jetzt, nach acht Jahren, beschloss, mich zu finden, dann vermutlich nicht umsonst und schon gar nicht wegen «Desertion von der Arbeitsfront». Sie sagte: „Sie suchen Dich und sie werden Dich wahrscheinlich finden. Man wird Dich in die Verbannung schicken. Du verstehst, was mit uns geschehen wird? Ich, die Frau eines Volksfeindes, werde entlassen oder vielleicht aus Kuibyschew weggeschickt? Und die Kinder?“ Tränen, Tränen…
Ich habe versucht, mit den heranwachsenden Kindern zu sprechen, natürlich heimlich ohne ihre Mutter. Ich erzählte ihnen vom Krieg, vom menschlichen Leid und vom Heroismus… Und ich las in ihren Augen eine stumme Frage: «Und du, Vater, wo warst du? Warum bist du nicht zurückgekommen wie alle anderen?“
Was hätte ich tun sollen? Meine Familie verlassen? Die Kinder verlassen? Das ist unmöglich. Das geht über meine Kräfte. Vor dem Krieg habe ich viel Marx und Lenin gelesen. Ich bereitete mich darauf vor, in die Partei einzutreten, auch wenn ich aus verschiedenen Gründen parteilos blieb. Aber ich wusste, dass ich ein gleichberechtigter Bürger war. Und jetzt bin ich wer? Ich laufe in der Welt herum wie ein Dieb. Ja, in gewisser Weise habe ich mich selbst beraubt. Ich hätte nicht überleben dürfen. An der Front konnte ich nicht sterben, doch in der Gefangenschaft kampflos zu sterben, war widerlich! Deshalb sage ich jetzt, dass der einzige Ausweg für mich darin besteht, für zehn Jahre verurteilt zu werden. Denn dort kann ich arbeiten, Geld verdienen und es meiner Frau schicken. Und in zehn Jahren sind die Kinder erwachsen, und ich werde wahrscheinlich nicht mehr unter den Lebenden sein.
Es herrschte Schweigen. Michailow blätterte in einem Ordner mit Papieren und fragte:
– Und wer hat Ihnen geholfen, die Demobilisierungsunterlagen zu bekommen?
– Warum stellen Sie eine Frage, die ich nicht beantworten werde? Zumal Sie selbst an die Quelle gelangen können.
– Ja, das stimmt.
Ich setzte naiverweise voraus, dass meine Erzählung über das sich schwierig fügende Leben nach dem Krieg sie dazu bringen würde, sich in dieses Leben einzumischen. Aber das geschah nicht.
Der leitende Ermittler erklärte:
– Meines Erachtens ist nichts Schlimmes passiert. Hier sind Ihre Unterlagen. Leben Sie mit ihnen, so wie Sie es bisher getan haben. Sie sind korrekt. Wenn Sie nach Hause kommen, erzählen Sie Ihrer Frau alles. Versichern Sie ihr, dass Ihnen keine Gefahr droht. Wir werden Sie noch ein paar Mal herbitten, um einige Fotos zu identifizieren. Also gehen Sie. Alles Gute für Sie. …
Epilog
Vor dem Krieg habe ich fest daran geglaubt, dass der Mensch selbst Schöpfer seines Schicksals ist. Das Leben hat jedoch bewiesen, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg hat, sein Schicksal vorbestimmt ist. Doch dazu genügt unsere Weitsicht nicht….
Stellen Sie sich vor, dass auch Sie durch die Fügung des Schicksals im Gefängnis in Einzelhaft in strenger Isolation sitzen.
Sie wissen nicht, wann Sie entlassen werden und ob Sie überhaupt entlassen werden.
Sie empfinden diese Gefangenschaft als eine Strafe für eine edle Sache, die Sie getan haben.
Sie sehen durch die Gitterstäbe des Fensters nur ein Stück blauen Himmels.
Manchmal scheint ein Sonnenstrahl herein, und gelegentlich erklingen von irgendwo in der Ferne die Stimmen des Lebens und der Gesang der Vögel.
Man führt Sie zum Rundgang in einem düsteren Gefängnishof, wo Sie Zeuge von Willkür, unmenschlicher Grausamkeit, Sadismus werden.
Die ganze restliche Zeit sind Sie mit Ihren Gedanken und Gefühlen allein.
Und dann, nach zwei oder drei Jahren, werden Sie entlassen und man gibt Ihnen die volle Freiheit.
Viele Menschen verhärten dadurch, entfernen sich von den Menschen, ziehen sich in sich selbst zurück. Das sind schwache, willenlose Menschen. Aber ich glaube, dass Sie stärker sind. Sie werden Ihre Liebe zum Leben finden, Sie werden seine Schönheit und Größe spüren. Wenn Sie kein persönliches Glück haben, werden Sie sich an der Freude der anderen erfreuen und ihr Glück wertschätzen. Sie werden sich nicht erlauben, einem Menschen Schaden zuzufügen, Sie werden die Nähe zu den Menschen suchen, nur das Licht in ihnen sehen und für sich das Glück in ihnen finden. Sie werden den Umgang mit offensichtlich schlechten Menschen meiden und das Gute vor ihnen schützen, das durch den Kontakt mit Herzlosigkeit seine Schönheit verlieren kann. Sie werden die kleinen Dinge schätzen … Ein großer schöner Blumenstrauß besteht aus einzelnen kleinen Blumen, die nicht immer leicht im Disteldickicht zu finden sind …
Iwan Nikolajew
20 Kommentare zu „9. Mai 2025: Wir verneigen uns vor dem russischen Volk – die Geschichte eines Helden“